

Es gibt Bilder, die sind so schrecklich, dass sie sich ins kollektive Gedächtnis einprägen. Dazu gehört auch der schreckliche Unfall am 11. Juni 1955 beim 24-Stunden-Rennen von Le Mans. Schon damals war das Rennen eine Grossveranstaltung mit 250’000 Zuschauern.
Nach dem für Le-Mans typischen Start, bei dem die Fahrer über die Piste zu ihren vor der Boxengasse aufgereihten Fahrzeugen sprinten mussten, startete das Rennen pünktlich um 16 Uhr. In Führung lag Mike Hawthorn im Jaguar D-Type. Der britische Rennfahrer war berühmt dafür, dass er im Cockpit stets eine Fliege und ein weisses Hemd trug.
So bahnte sich das Unglück an
Das Unglück ereignete sich kurz nach 18 Uhr in der 35. Runde des Rennens. Mike Hawthorn, überrundete auf der Start-Ziel-Geraden den Austin-Healey von Lance Macklin, um dann abrupt abzubremsen und in die Boxengasse zu fahren, die damals grad am Pistenrand lag. Macklin konnte zwar noch ausweichen, um eine Kollision zu vermeiden. Doch dabei geriet er in die Fahrspur von Pierre Leveghs Mercedes-Benz 300 SLR, der mit Vollgas von hinten heran raste.
Levegh hatte keine Chance mehr auszuweichen. Sein Mercedes prallte ungebremst auf das Heck des Austin-Healey, hob ab und wurde wie ein Geschoss in Richtung Zuschauertribüne katapultiert. Beim Aufprall zerbrach der Mercedes in Einzelteile: Der Motorblock und Teile der Vorderachse flogen in die Menge, der Magnesiumaufbau fing Feuer. Levegh selbst wurde aus dem Auto geschleudert und starb sofort. Binnen Sekunden verloren weitere 83 Zuschauer ihr Leben, 120 wurden zum Teil schwer verletzt.
Trotz des Unglücks wurde das Rennen nicht abgebrochen. Die Veranstalter befürchteten, dass eine Evakuierung in Panik enden könnte. Und der Unfallverursacher, Mike Hawthorn, gewann das schicksalhafte Rennen.
Mercedes zog sich nach Mitternacht freiwillig aus dem Rennen zurück und beendete daraufhin mit sofortiger Wirkung seine Rennsportaktivitäten bis 1989. Zwar war das Ende des Engagements im Rennsport zu diesem Zeitpunkt bereits seit Monaten beschlossene Sache – die Tragödie beschleunigte den Ausstieg lediglich.
Wie konnte das passieren?
Mehrere Faktoren trugen zum Desaster bei. Zum einen war die Strecke in Le Mans veraltet und nicht für die hohen Geschwindigkeiten der damaligen Sportwagen ausgelegt. Es gab weder Absperrungen noch Sicherheitszonen zwischen der Strecke und den Zuschauertribünen. Zum anderen lagen die Boxen sehr eng beieinander – ohne Trennung von der Strecke, was das Unfallrisiko erhöhte. Es war also die Kombination aus hoher Geschwindigkeit, unzureichender Streckensicherheit und dem Verhalten der beteiligten Fahrer, die zur Katastrophe führte.
Weltweiter Schock
Die Tragödie führte zu einem weltweiten Schock, aber auch zu übereifrigen Aktionismus. Zahlreiche Länder, darunter Frankreich, Deutschland, Spanien und die Schweiz, setzten Rennen zunächst aus. Während die meisten Länder Grand-Prix-Veranstaltungen mit Sicherheitsauflagen wieder zuliessen, galt das Verbot für automobile Rundstreckenrennen in der Schweiz bis 2022.
Wendepunkt im Motorsport
Der Unfall führte auch zu grundlegenden Veränderungen im Motorsport, insbesondere in Bezug auf die Sicherheit. Viele Rennstrecken wurden in den folgenden Jahren grundlegend modernisiert – mit grösseren Auslaufzonen, getrennten Boxengassen und mehr Abstand zwischen Zuschauern und Strecke. Die Rennautos wurden sicherer gebaut, u.a. durch stabilere Fahrgastzellen, feuerfeste Materialien und besser konstruierte Karosserien. Ausserdem wurden die Helmpflicht und feuerfeste Kleidung für Fahrer nach und nach eingeführt und standardisiert. Das machte die Sache nur marginal besser. Bis in die 1980er Jahre starben die Rennfahrer wie die Fliegen auf den Visieren.
Mahnmal für den Fortschritt
Das Unglück von Le Mans 1955 markiert einen tragischen Einschnitt in der Geschichte des Motorsports. Es brachte aber auch den dringend notwendigen Wandel der Sicherheitsstandards – zumindest ein wenig. Bis heute ist der schwere Unfall von Le Mans 1955 ein Mahnmal dafür, dass der technologische Fortschritt im Rennsport niemals auf Kosten der Sicherheit von Fahrern und Zuschauern gehen darf. Die Strecke in Le Mans wurde erst 1972 umgebaut und sicherer gemacht. Der Umbau umfasste die Schaffung der "Porsche-Kurven" und die Anpassung der Ford-Schikane.
Text: Jürg Zentner
Bilder: Mercedes-Benz Archive