Test: Harley-Davidson LiveWire

Epochal: Harley-Davidson fährt jetzt auch elektrisch

Vor 55 Jahren lancierte Harley-Davidson mit dem E-Starter der Electra Glide eine bahnbrechende Neuheit. Ähnlich Epochales passiert heute mit dem Modell LiveWire – dem ersten vollelektrischen Bike der Marke.

Veröffentlicht am 22.01.2020
Übersichtlich: Farb-Touchscreen mit diversen Layouts und vielen Infos.

Übersichtlich: Farb-Touchscreen mit diversen Layouts und vielen Infos.

Strom statt Benzin: Die Anschlüsse für schnelle und konventionelle Ladungen unter dem «Tankdeckel».

Strom statt Benzin: Die Anschlüsse für schnelle und konventionelle Ladungen unter dem «Tankdeckel».

Vom Feinsten: Voll einstellbares hinteres Zentralfederbein von Showa.

Vom Feinsten: Voll einstellbares hinteres Zentralfederbein von Showa.

Wie gewohnt: praxisgerechte Bedienelemente ohne Kupplungshebel.

Wie gewohnt: praxisgerechte Bedienelemente ohne Kupplungshebel.

Power-Station: Der wassergekühlte Elektromotor liefert 106 PS und 116 Nm.

Power-Station: Der wassergekühlte Elektromotor liefert 106 PS und 116 Nm.

Ungewohnt sportlich: Die kurze Sitzbank scheint über dem Hinterrad zu schweben. Der Zahnriemen ist rechts statt wie bei Harley Davidson üblich links.

Ungewohnt sportlich: Die kurze Sitzbank scheint über dem Hinterrad zu schweben. Der Zahnriemen ist rechts statt wie bei Harley Davidson üblich links.

Gute Dosierbarkeit, gute Verzögerung: Auf die 330-Millimeter-Brembos mit Vierkolbenzangen ist Verlass.

Gute Dosierbarkeit, gute Verzögerung: Auf die 330-Millimeter-Brembos mit Vierkolbenzangen ist Verlass.

Wieselflink: Keine andere Harley-Davidson biegt ähnlich zügig ums Eck.

Wieselflink: Keine andere Harley-Davidson biegt ähnlich zügig ums Eck.

Fazit:
Das hätte ich Harley-Davidson nicht zugetraut. Der Elektro-Erstling funktioniert sehr gut. Die LiveWire ist in technischer und fahrdynamischer Hinsicht absolut auf Augenhöhe mit den wenigen Mitbewerbern. Und sie macht richtig Spass! Preis, Sound, Reichweite und Ladezeiten haben Optimierungspotenzial, doch da sind die Amis dran.

Kerniges V2-Gewitter, pulsierender Heartbeat und «good vibrations» sind seit über 115 Jahren die unverkennbaren Markenzeichen der kultträchtigen US-Bikes. Und nun das: ein Elektro-Töff – ausgerechnet von Harley-Davidson. Geht das überhaupt? Ist das nicht so etwas wie Verrat an den Hunderttausenden begeisterter Fans, welche dem V2 ganz nach dem Motto: «Einmal Harley, immer Harley», meist ihr gesamtes Leben lang huldigen?

Nun, wie dem auch sei: Im Zeitalter von Greta, Klimaerwärmung und Nachhaltigkeit wagt die Traditionsmarke mit der elektrisch angetriebenen LiveWire als erster Grossserienhersteller den Spagat und damit einen mutigen Schritt in die Töff-Zukunft.

 

Leichteste Harley

Dass Motorräder mit Elektro-Power durchaus Spass machen, haben wir bereits mit entsprechenden E-Fahrzeugen der derzeit noch wenig bekannten Marken Energica und Zero erlebt. Nebst fehlendem Sound und hohen Anschaffungskosten sind es insbesondere die relativ geringe Reichweite und die langen Ladezeiten, die bisher eine Akzeptanz auf breiter Basis und damit Erfolge an der Verkaufsfront verhinderten.

Diesbezüglich macht auch die neue LiveWire keine Ausnahme. Je nach Fahrweise soll eine «Tankfüllung» für 150 bis 230 Kilometer reichen. Nach rund 90 Kilometern Testfahrt signalisierte die Anzeige noch knapp 50 Prozent Batteriekapazität. Am Typ-2-Schnelllader ist ein komplett entleerter Akku nach einer Stunde wieder voll, an der heimischen 240-V-Dose dauert das circa zwölf Stunden.

Diese Daten sind zwar nicht berauschend, doch im Vergleich zum ersten Prototypen Project LiveWire, den wir vor fünf Jahren kurz fahren durften, sind die Entwicklungen beachtlich. Ein kompletter Ladezyklus dauerte damals 3,5 Stunden. Die Leistung wurde jetzt von 74 auf 105 PS und das maximale Drehmoment von 70 auf 114 Newtonmeter gesteigert. Durch den grösseren und schwereren Akku hat das Bike aber um mehr als zehn Prozent an Gewicht zugelegt. Dennoch ist die LiveWire mit 249 Kilogramm eines der leichtesten Harley-Bikes. Und aufgrund der relativ schlanken Konstruktion, der hochwertigen Fahrwerkkomponenten sowie des tiefen Schwerpunktes das mit Abstand dynamischste und sportlichste.

Wo bei anderen Harleys der mächtige V2 wummert, ist bei der LiveWire der 104 Kilogramm schwere Akku eingebaut. Schwerpunktmässig optimal positioniert, surrt direkt unter der Lithium-Ionen-Batterie ein wassergekühlter Wechselstrom-Synchronmotor. Der Endantrieb erfolgt markentypisch mittels Zahnriemen. Voll einstellbare Federelemente von Showa, gut dosierbare und kraftvoll zupackende Bremsen von Brembo – für die LiveWire ist nur das Beste gut genug. Und mit vier Leistungsmodi, Wheelie-Kontrolle, Kurven-ABS und -Traktionskontrolle ist zudem das volle Sortiment an Assistenzsystemen an Bord. Einziger Wermutstropfen ist der nicht einstellbare Bremshebel im typisch klobigen H-D-Format.

 

Gesteigerter Fahrspass

Aufsitzen, los geht’s. Durch Umlegen des Hauptschalters am rechten Lenkergriff wird das System aktiviert und die Anzeige im Farb-TFT-Touchscreen zum Leben erweckt. Vier programmierte Fahrmodi (Strasse, Sport, Reichweite, Regen) stehen zur Auswahl, welche nebst Gasannahme und Leistungsentfaltung auch die Rekuperationsstärke und damit die Motorbremswirkung beeinflussen. Mit dem Druck auf den Startknopf wechselt die Grafik im Display und signalisiert damit – trotz ungewohnter Ruhe – die Fahrbereitschaft des Bikes.

Anfahren ohne Kupplung ist selbst für routinierte Fahrer zunächst ein bisschen befremdend. Erst recht, da bereits aus dem Stand nahezu das gesamte Drehmoment zur Verfügung steht, welches die LiveWire bei unachtsamem Dreh am Gasgriff wie ein Geschoss aus der Kanone abfeuert. Im Sportmodus sprintet die E-Harley in drei Sekunden aus dem Stand auf Tempo 100, der Top-Speed ist auf 180 km/h begrenzt. Mit zunehmender Fahrpraxis reift das Verständnis für den ungewohnten, stufenlosen E-Antrieb. Das Vertrauen wächst und damit auch der Fahrspass.

 

Es braucht klare Lenkbefehle

Durch Drehen des Gasgriffs in Gegenrichtung wird rekuperiert. Je nach gewähltem Fahrmodi bremst das Motorrad dadurch mehr oder weniger stark ab, ohne dass dabei die Front eintaucht. Im Sportmodus ist nicht bloss die Beschleunigung, sondern insbesondere auch die Verzögerung beachtlich. Ohne hektische Bremsmanöver, lediglich mit gut kontrollierbarer Gas-auf-Gas-zu-Steuerung, lässt es sich in rhythmischem Flow ruhig und überraschend zügig durch die Wechselkurven wieseln, wobei das stattliche Gewicht zuweilen eine starke Hand und klare Lenkbefehle erfordert. Das ausgewogen abgestimmte Fahrwerk lässt dagegen wenig Wünsche offen, der eher emotionslose Turbinensound dagegen schon.

Text: Hanspeter Küffer / Fotos: Alessio Barbanti

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