Chinesisches Geflügel
Knapp ein Jahr nach dem Verkaufsstart in China steht der MG Cyberster hierzulande kurz vor der Markteinführung. Selbst wer ausschliesslich Benzin im Blut hat, könnte dem elektrischen Roadster verfallen.
Viele haben darüber geredet oder tun es immer noch. Ja, so ein elektrischer Roadster, das wäre doch was als Imageträger für die eigene Marke und den E-Antrieb an sich. Aber am Ende fehlte bei allen der Mut, womit die Pläne, die zweifellos bei diversen Herstellern auf den Tischen lagen, in der Schublade verschwanden. Nicht so in China. Dort gab es Druck aus Grossbritannien, genauer aus London, wo ein gewisser Carl Gotham im Jahresrhythmus einen Roadster forderte. Der Direktor von SAIC Design Advanced ist der festen Meinung, dass die seit 2005 unter chinesischem Besitz fahrende Marke einen Roadster braucht. Schliesslich stehe der ursprünglich britische Hersteller MG für offene Sportwagen von ebenda wie kaum eine andere.
Nach reichlich Überzeugungsarbeit und diversen Entwürfen folgte man im Reich der Mitte Gothams Argumenten und gab die Freigabe für das Projekt. 2021 wurde eine Konzeptstudie namens Cyberster präsentiert. Im Juli 2023 feierte das Serienmodell am Goodwood Festival of Speed seine Weltpremiere. Schon im folgenden November gelangte es in China in den Verkauf. Seit diesem August kann der Cyberster passend zum 100-jährigen Jubiläum von MG als Hersteller auch in dessen ursprünglicher Heimat Grossbritannien bestellt werden. Und nun kommen die weiteren europäischen Länder zum Luftkuss. Bei uns in der Schweiz wird es ebenfalls bald ernst. Noch vor Jahresende soll der Roadster konfiguriert werden können.
Keine Frage des Timings
Dass der Sommer dann lange vorbei ist und zumindest kalendarisch der Winter Einzug gehalten hat, stört MG nicht. Kein Wunder, das Auto ist erstens sowieso nicht mehr völlig neu und hat zweitens schon jetzt derart viel Aufmerksamkeit und Wohlwollen generiert, dass MG als Marke massiv profitieren konnte. Selbst konservativste britische MG-Fans sehen das mit der chinesischen Inhaberschaft nicht mehr ganz so eng. Laut Aiden He, Vizepräsident von MG Motor Europe, würden sogar Mitglieder von britischen MG-Klubs ihre Freude am Cyberster haben. Sie wissen wohl auch: Unter europäischer Flagge wäre so ein Auto nie in die Realität umgesetzt worden – und die Marke selbst kaum mehr auferstanden.
Dieses Wohlwollen ist umso bemerkenswerter, da bislang nur sehr wenige die Gelegenheit hatten, den Cyberster zu fahren. Weder als 213 kW/314 PS starken Hecktriebler noch als hecklastig ausgelegten Allradler mit 400 kW/544 PS. In Letzterem konnten wir in Dänemark, wo in diesen Wochen die offizielle Markteinführung stattfindet, ausgiebig über die Landstrassen stromern. Und wir wurden trotz einiger Sonderbarkeiten des Gesamtkonzepts nicht enttäuscht.
Dynamische Grossserienbasis
Was in Zahlen schon ganz gut klingt, fühlt sich auf der Strasse schlicht famos an. Geradeaus ist das in Anbetracht von Leistung und Kraft keine Überraschung: Der Allradler mit 725 Nm Drehmoment beschleunigt in 3,2 Sekunden von 0 auf 100 km/h und fährt damit auf dem Niveau von Porsche 911 und Co. Zwischenspurts erledigt der Chinese mit britischen Wurzeln vom Gefühl her kaum langsamer als solch etablierte Sportwagen. Hier spielt der Elektroantrieb seine Vorzüge gnadenlos aus.
Was in Anbetracht von zwei Tonnen Leergewicht – davon ist ja auch ein Elfer nicht mehr so weit weg – in diesem Ausmass nicht zu erwarten war, ist die sehr gute Dynamik in Kurven. Der Roadster giert nach ihnen, lässt enorm hohe Tempi zu, ohne nur annähernd die Beherrschung zu verlieren. Dank der im 4WD verbauten Brembo-Bremsen gelingt auch das Verzögern souverän.
Immerhin reden wir hier von einem Modell, das auf der Modular-Scalable-Plattform (MSP) von SAIC Motor basiert. Auf dieser sind auch Familienkutschen wie der MG 4 unterwegs, wobei gerade dieses SUV zu den dynamischeren Vertretern in seinem Segment gehört, was unter anderem der 50:50-Gewichtsverteilung zu verdanken ist. Der Cyberster verfügt aber zusätzlich über eine viel direktere Lenkung, profitiert von einem noch tieferen Schwerpunkt und liegt derart satt auf der Strasse – ja, sicher auch wegen der Kilos –, dass man meinen könnte, in einem von Grund auf als genau das entwickelten Sportwagen zu sitzen.
Fahrspass mit Fehlern
Womit wir bei den wenigen, aber doch unbestritten vorhandenen Fehlern dieses Autos wären. Man sitzt zu hoch. Da lässt sich die netto 74,4 kWh fassende Batterie im Unterboden nicht wegdiskutieren. Das stört nicht nur das Roadstergefühl, sondern sorgt auch dafür, dass Cyberster-Piloten nicht viel grösser als 1,85 Meter sein sollten. Ausser sie haben 1,40 Meter lange Beine, denn nach hinten lässt sich der Sitz sehr weit schieben. Nach oben kommt halt mal das Dach, wenn dieses vorher nicht elektrisch geöffnet wurde.
Auch das Bedienkonzept hat Mängel. Zentral hinter dem Lenkrad gibt es ein konfigurierbares 10,25-Zoll-Instrumentendisplay mit allen wichtigen Infos, links und rechts je einen kleinen Siebenzoll-Bildschirm für Navi und Co. Dass viel der beiden äusseren Screens durch das Lenkrad verdeckt wird, ist nicht optimal. Immerhin fällt die Bedienung an sich auch dank diverser Tasten relativ leicht.
Nicht günstig, aber preiswert
Die Kritik ist aber noch nicht abgeschlossen, denn der Kofferraum ist mit 249 Litern Volumen zwar ordentlich geräumig, aber derart verschachtelt geformt, dass man sowieso nur ganz kleine Koffer reinkriegt. Und da wären ja noch die nach oben öffnenden Scherentüren. Was in engen Parklücken ganz praktisch sein mag, ist im Alltag eine zeitraubende Effekthascherei. Zwar vergehen für das Öffnen und Schliessen jeweils nur ein paar Sekunden, aber normale Türen wären zweckmässiger. Selbstverständlich haben die Flügel Sensoren, damit sie nicht versehentlich an eine Parkhausdecke knallen oder einen gestreckten Hals verletzen. Aber wir wollen gar nicht wissen, wie teuer eine vielleicht doch mal nötige Reparatur sein wird …
Sind die genannten Punkte ein Problem? Nein, nicht wirklich. Was MG da rausgehauen hat lässt jedes Autofahrerherz höherschlagen, selbst, wenn dort sonst nur Benzin gepumpt wird. Eben ganz so, wie man sich das von einem Sportwagen wünscht. Dass der Cyberster in der gefahrenen Allrad-Ausführung 67 990 Franken kosten wird, ist auch nur dann wirklich ein Problem, wenn man ihn mit weit teureren Sportlern vergleicht. Der Preis erscheint gerechtfertigt. Etwas Vergleichbares gibt es anderswo derzeit weder für Geld noch gute Worte. Zuallerletzt aus Europa, wo mit viel Fantasie und vor allem grossem Portemonnaie der Maserati GranCabrio Folgore als E-Alternative betrachtet werden kann. Doch die ist doppelt so teuer.
Text: Simon Tottoli
Fotos: Emma Andersson