Chevrolet Corvette L88 – Der Heilige Gral
Nein, Corvette ist nicht gleich Corvette. Es sind die Details und Bezeichnungen, die den ganz grossen Unterschied machen können. Und es ist dies der Versuch einer Einführung in ein paar Geheimnisse.
In Europa darf man ja schon zufrieden sein, wenn die Corvette von Chevrolet nicht à priori als Zuhälterschlitten bezeichnet wird. Als Kenner gilt bereits, wer die Begriffe «C2», «C3» und so weiter nennt – unterdessen ist man bei C8 angelangt – einige wenige unterscheiden auch noch «Sting Ray» und «Coke Bottle».
In den USA und unter den Freaks ist das etwas anders. Da wird eine Geheimsprache ausgepackt, gerne etwas mit einem Z: Z06 (1963), ZL1 (1969, kennt man besser vom Camaro), ZR1, ZR2. Von Letzterem, zum Beispiel, wurden 1970 nur gerade zwölf Stück gebaut, zehn Coupés und zwei Cabrios. ZR2 bedeutet: LS6-Motor (454 ci/425 hp), verstärkte Kupplung, manuelle 4-Gang-Schaltung M22, besser bekannt als «Rock Crusher», die scharfen Bremsen J52, das Heavy-Duty-Fahrwerk mit speziellen Federn F44 und ein grösserer Kühler. Doch: kein Radio, keine Klimaanlage, keine Servolenkung – alles klar?
Die Rennmaschine
Wer gut aufgepasst hat in diesen ersten Zeilen, der hat schon gemerkt: Motoren begannen und beginnen auch heute noch mit L. Hier in dieser Geschichte geht es um den L88, der so etwas wie der Heilige Gral unter den mäniglichen Maschinen in der Corvette ist. Der «Big Block» von General Motors begann seine Karriere 1958, als 348er (also: 5,7 Liter), in der Basis etwa 250 PS stark, als Special Super Turbo-Thurst Tri-Power mit drei Doppelvergasern dann mit 315 PS. Über die Jahre wurden die Dinger selbstverständlich stärker, als Gipfel sind da die Varianten L71, L88 und L89 zu nennen, 427ci, sieben Liter Hubraum, bis zu 435 PS stark. Obendrüber war dann noch der LS7 mit 7,4 Liter Hubraum und 465 PS.
Gut, nun also zum L88. Es begann so: Der «Sting Ray», also die 1962 vorgestellte Corvette C2, war ja auch ein ganz anständiges Renngerät. Doch die privaten Teams, vor allem Don Yenko und Sunray DX Motorsports, wollten mehr Leistung und stiessen damit beim damaligen Corvette-Chefingenieur Zora Arkus-Duntov auf offene Ohren. Er liess für den 1966 eingeführten 7-Liter-Big-Block-V8 einen Alu-Zylinderkopf schmieden sowie auch sonst alles reinpacken, was gut und teuer war. Die Verdichtung wurde auf 12,5:1 erhöht, es gab mehr Luft und die ganz fetten 850-CFM-Holley-Vergaser. Im Innenraum besagte ein Kleber, dass dieses Tier nur mit Rennbenzin zu füttern sei.
Die wahre Pracht: sieben Liter Hubraum, natürlich acht Zylinder, irgendwo jenseits der 500 PS. Und ja, das ist mehr als 50 Jahre her.
Ferrari jagen
Niemand weiss, wie viele Exemplare 1966 gebaut wurden. Ein gutes Stück ist aber berühmt, die sogenannte Penske Corvette, die 1966 bei den 24 Stunden von Daytona ihre Klasse mit 183 Meilen Vorsprung gewann und den 11. Gesamtrang erreichte. Das Ding ging auf der Rennstrecke offenbar mit 190 Meilen durch die Lichtschranke. Das wären dann 306 km/h, nicht schlecht für ein Automobil, das auf eigener Achse von St. Louis nach Florida und wieder zurückfuhr. Hübsche Anekdote nebenbei: Im Rennen fuhr George Wintersteen einem Konkurrenten ins Heck. Er war schlicht zu schnell. Einen neuen Kühler fanden die Penske-Mechaniker in einer Corvette auf dem Parkplatz, doch die Frontleuchten mussten mit simplen Taschenlampen ersetzt werden. Dick Guldstand fuhr deshalb die ganze Nacht hinter einem Ferrari her.
Zwar erschien der Code L88 schon damals in der offiziellen Preisliste, das musste so sein, um dem SCCA-Reglement Genüge zu tun. Doch Chevrolet machte seine Händler darauf aufmerksam, dass sie diese selbstverständlich manuell geschalteten Fahrzeuge nicht bestellen sollten; Werbung gab es natürlich auch keine.
Das Innenleben mag bei diesem Fahrzeug sehr gepflegt sein, doch Ergonomie war damals halt noch ein Fremdwort.
Sanft gedrosselt
1967 gab es dann, auf Basis der letzten C2-Vetten (Sting Ray), ein offizielles Package mit der Bezeichnung L88; RPO bedeutet «regular production option». Darin inbegriffen waren, zusammen mit den oben schon erwähnten Verbesserungen, der 427er-Motor mit dem 4-Gang-Getriebe M22, den Scheibenbremsen J56/J50, dem verstärkten Fahrwerk F41 und der Rennzündung K66. Es gab dafür keine Klimaanlage, kein Radio, keine Servolenkung. Man produzierte genau 20 Exemplare. Die meisten standen im Renneinsatz, doch es gab auch einige wenige, die ganz zivil gefahren wurden. Offiziell hatten diese Geräte 425 PS, doch es waren wohl mehr. Viel mehr, es heisst: 560 PS.
1968 und 1969 gab es dann weiterhin dieses L88-Package, jetzt aber auf Basis der C3-Vette (Coke Bottle). 1968 waren es 80 Exemplare, 1969 dann 116 Stück – einige davon sogar mit der 3-Gang-Automatik. Diese Fahrzeuge wurden hauptsächlich als Strassenfahrzeuge ausgeliefert, obwohl sie auf der Rennstrecke weiterhin mehr als nur konkurrenzfähig waren.
Dazu noch eine Anekdote am Rande: Die L88-Corvette traten 1967 erstmals in Le Mans an. Ein quasi serienmässiges Fahrzeug führte die GT-Klasse bis zur zwölften Stunde an, musste dann aber aufgeben. Auch in der Folge gewannen die Vetten nichts in der Sarthe. 1972 meldete NART, das amerikanische Ferrari-Team unter Luigi Chinetti, einen L88 als «Ferrari» beim 24-Stunden-Rennen an und durfte dann doch nicht antreten, weil Ferrari in jenem Jahr gar nicht erst antrat, also auch kein «Ersatzauto» einsetzen durfte. 1973 fuhr genau diese Vette dann doch, qualifizierte sich zwar nur auf dem 53. Rang, hatte sich bis fünf Uhr morgens aber auf den achten Gesamtrang vorgearbeitet, um dann nach Motorenproblemen noch auf den 15. Platz zurückzufallen. Wohlgemerkt: Der Wagen war da bereits fünf Jahre alt. 1972 hatte genau dieses Fahrzeug, bekannt als RED/NART, bei den zwölf Stunden von Sebring den Klassensieg und den vierten Rang insgesamt geschafft. Wichtig zu wissen: Für den Renneinsatz wurde der Motor «detuned», also leicht gedrosselt, um eine höhere Standfestigkeit zu erreichen.
Musste mit gedrosseltem Motor antreten: Die RED/NART-Vette mischte 1973 Le Mans auf.
So richtig teuer
Die «normalen» C2-Corvette sind heute sehr gesucht und gehören zu den Design-Meilensteinen. Aber so richtig teuer sind sie in den USA nicht. Die Preise steigen nur selten in den sechsstelligen Bereich. Bei den ganz wenigen C2/L88 ist das etwas anderes – das teuerste Stück wurde für 3,75 Millionen Dollar versteigert. Ganz in diese Höhen schwingen die C3/L88 nicht, aber sie kratzen dann und wann auch an der Million. Vielleicht lohnt es sich, in der Garage doch mal noch kurz nachzuschauen, welche Version dort geparkt steht.
Sie sind sehr, sehr selten, die C2 als L88: Und deshalb sind sie auch entsprechend teuer.
Text: Peter Ruch
Fotos: RM Sotheby's