Klassiker: Mercedes 37/90

Das stärkste und schnellste Serienauto – vor 108 Jahren

Der Mercedes 37/90 fährt in einer eigenen Liga. Dieser grosse Tourenwagen war vor 108 Jahren das Äquivalent zu einem Bugatti Chiron unserer Zeit: eines der stärksten und schnellsten Serienautos überhaupt.

Veröffentlicht am 20.01.2020

Die Ansaugseite des riesigen Motors liegt frei. Einige Tropfen Öl gehören in die entsprechenden Öffnungen oben auf der Kipphebelbrücke. Drei Ventilfedern pro Zylinder stehen frei auf den im Doppel gegossenen Sackzylindern. Viel Kupfer, Messing, Gusseisen und Nickel sind zu sehen. Das Ganze trägt eine glaubwürdige leichte Patina. Nein, dieser Wagen ist weder ein überrestauriertes Museumsstück noch zu einem Dasein als Ausstellungsstück verdammt. Er soll und kann fahren. Der Daimler Steigstromvergaser zeigt, dass er schon viele Male geflutet wurde. Und ein feiner Ölfilm, der alles überzieht, beweist, dass hier nichts für die reine Schau präpariert wurde, sondern um zu funktionieren.

Der 9,5-Liter-Vierzylinder startet ohne sägen und Anlasser-mahlen. Nach einigen lautstarken, knallenden ersten Lebenszeichen aus dem armdicken Auspuffrohr fällt der Daimler-Motor in einen stabilen, sehr niedertourigen Leerlauf. Die Zündfunken werden mit zwei Kerzen pro Zylinder per Hochspannung von einem Magneten abgegeben. Das unter dem Wagen offen laufende Schwungrad – es ist als grosser Ventilator ausgeführt – dreht dabei so langsam, dass man meint, die einzelnen Umdrehungen zählen zu können. Das erinnert ein wenig an eine Dampfmaschine.

Doch während die meisten Fahrzeuge jener Epoche eher Schnüffel- denn Verbrennungsgeräusche von sich geben, lässt der Mercedes 37/90 beim geringsten Gasstoss ein wahres Gewitter losbrechen. Kein Zweifel, hier wird den vier Arbeitstakten eines Ottomotors auf glorreiche Art gehuldigt. Die dabei frei werdenden Kräfte sind schon akustisch zu erahnen.

100 km/h – der 37/90 war das  Supercar seiner Zeit.

100 km/h – der 37/90 war das Supercar seiner Zeit.

Zwei Zylinder sind zusammen gegossen. Der Zylinderkopf ist nicht abnehmbar.

Zwei Zylinder sind zusammen gegossen. Der Zylinderkopf ist nicht abnehmbar.

Ein Klasse-Automobil

Im Jahr 1912 stand Henry Ford in den USA gerade am Anfang, seine Automobile in grossen Serien herzustellen. Dass der pferdelose Wagen gekommen war, um zu bleiben, das stand zu diesem Zeitpunkt zweifelsohne fest. Der globale Automobilmarkt war 1910, dem zweiten vollen Produktionsjahr des Ford Model T, um sagenhafte 4500 Prozent gewachsen.

Doch in Europa waren Autos noch längst nicht Allgemeingut, sondern einer kleinen, privilegierten Schicht vorbehalten. Hierzulande war diesbezüglich oft die Rede von «Luxuswagen». Dies bezeichnete aber nicht nur die teure Autokategorie, sondern war Ausdruck für das zum Vergnügen betriebene Fahrzeug – im Gegensatz zu jenen Autos, denen ein Nutzwert zugesprochen wurde: Doktorwagen, Last- oder Feuerwehrfahrzeuge. Und die Schweiz gehörte vor dem Ersten Weltkrieg zu den Ländern mit der grössten Lastwagendichte.

Doch zurück zum 37/90. Der grosse Mercedes war der ultimative Luxus unter den Luxuswagen. Er war selbst für betuchte Kunden nicht ohne Weiteres erschwinglich. 25 000 Mark kostete das nackte Chassis. Dafür gab es einen ganzen Bauernhof. Und während die Messing-Klassiker längst nicht mehr so populär waren wie zu den Anfängen der Oldtimerei in den späten 1950er- und 1960er-Jahren, konnte dieser Mercedes während mehr als 100 Jahren seinen besonderen Status bewahren.

 

Mehrventiler aus der Luftfahrt

1907 hatte Wilhelm Maybach die DMG verlassen, um sein eigenes Unterneh-
men zu gründen. Nachfolger wurde Paul Daimler, der Sohn von Firmengründer Gottlieb Daimler. Seinen frei gewordenen Platz bei Austro-Daimler füllte übrigens Ferdinand Porsche.

Der 37/90 profitierte von den fortschrittlichen Ideen Daimlers. Um die Füllung zu optimieren, setzte der junge Ingenieur auf hängende Ventile. Pro Zylinder steuert ein grosses Einlass- und zwei kleinere Auslassventile den Gasfluss. Die vier Gusszylinder sind je zu zweit verblockt auf den Aluminiumblock aufgesetzt. Eine Zylinderkopfdichtung gibt es nicht. Die Ventile sind direkt in die Sackzylinder eingebaut und die Kühlmäntel drum herum aufgeschweisst.

Das als Ventilator ausgeformte, offen laufende Schwungrad sorgt – zusammen mit einem regulären Ventilator und einer Wasserpumpe –  dafür, den Wärmehaushalt des gewaltigen Motors unter Kontrolle zu halten. Als historisch wichtig gilt nicht nur die Spitzform des Kühlers. Erstmals bei einem Daimler überhaupt trägt der 37/90 einen Stern am Kühler – oder präziser: deren zwei. Damit sollten die Aktivitäten der Cannstädter zu Wasser, zu Lande und, damals ganz neu, in der Luft zum Ausdruck gebracht werden.

 

Vier Geschwindigkeiten

1300 Umdrehungen braucht der Mercedes-Motor, um seine Leistung von 90 PS abzugeben. Da bleibt nicht viel Spielraum für Drehzahlunterschiede. Bei Daimler, wo bereits 1889 im Stahlradwagen zur Pariser Weltausstellung ein Viergang-Getriebe mit verschiebbaren Zahnrädern eingebaut war – übrigens das erste der Automobilgeschichte –, waren vier «Geschwindigkeiten» eine Selbstverständlichkeit. Dazu gibt es folgende Übersetzungen: 4:1, 2,2:1, 1,4:1 und 1:1 als oberster Gang.

Nach gängiger Praxis der Zeit sitzt das Gaspedal zwischen der Kupplung und den beiden auf die Hinterräder – präziser auf die Kettenräder am Getriebeausgang – wirkenden Bremspedale. Zur Betätigung einer weiteren Bremse am Getriebe dient ein langer Hebel.

Die Vorderräder bleiben von der Bremswirkung völlig unbehelligt. Blockierende Vorderräder waren auf den damals durchwegs unbefestigten Strassen weit mehr gefürchtet als die beschränkte Bremskraft und Seitenführung einer blockierten Hinterachse.

 

Tiefergelegt

Mit dem Mercedes von 1901 brachte erstmals ein Hersteller einen Pressstahlrahmen in den Automobilbau. Der Zweck war es, den Schwerpunkt tieferzulegen. Unser 37/90 aus der Sammlung der Fondation Renaud zeigt eine bemerkenswert tiefe Linie. Das Chassis ist über die Achsen leicht gekröpft, der Rahmen verjüngt sich dabei vorne wie hinten.

Das Fehlen einer Frontscheibe unterstreicht den sportlichen Charakter der Torpedokarosserie. So präsentierte sich der 37/90 bei seinem ersten Erscheinen 1911 als schneller Reise- und Tourenwagen. Um mögliche Schwierigkeiten mit einem damals noch anfälligeren Kardan zu umgehen, hatte es Daimler beim bewährten Kettenantrieb belassen. Damit sollte die Langstreckentauglichkeit der 37/90 unterstrichen werden.

Jüngere Modelle besassen dazu im Ölbad gekapselt laufende Ketten. Was heute archaisch anmutet, muss im damaligen Zusammenhang verstanden werden: Als 1908 der Ford T vorgestellt und ab 1909 in nennenswerten Stückzahlen gebaut wurde, galten dessen 20 Pferde als geradezu grosszügig. Geschwindigkeiten bis 60 km/h waren damit möglich. Das Gros europäischer Autos hingegen begnügte sich mit Ein- oder Zweizylindermotoren im ein- bis knapp zweistelligen Leistungsbereich. Geschwindigkeiten von 30 bis 40 km/h galten als angemessen. Ein Personenauto, das über 100 km/h erreichen konnte, das war 1912 noch nahezu unvorstellbar.

 

Der Kraft-Wagen

Ein Glück, dass der grosse 9,5-Liter-Motor nicht mehr von Hand angeworfen werden muss. Der Elektrostarter wurde irgendwann nachgerüstet. Vermutlich erfolgte dies bereits in den 1920er-Jahren. Damit die vier eisernen Kolben überhaupt den Kompressionsdruck und damit den oberen Totpunkt überwinden können, gibt es unter dem Spitzkühler, in Griffnähe zur noch immer vorhandenen Startkurbel, einen Zughebel für die Dekompression. Damit wird der Startvorgang zur Teamarbeit.

Der aussen liegende Schalthebel mit offener Kulisse stellt keine grossen Fragen, der erste Gang liegt vorne links. Der 37/90 kann im heutigen Verkehr, sofern er rollt, durchaus mithalten. Einen Leistungsmangel gibt es nicht zu beklagen.

Allerdings ist er, mangels Allradbremse, laut Gesetzgeber zu einer Höchstgeschwindigkeit von 40 km/h verpflichtet. Die Vorstellung, mit solch einem Auto in dichtem Verkehr unterwegs sein zu müssen, ist hingegen zum Fürchten. Dennoch, die Art und Weise, wie sich der 37/90 noch heute fahren lässt, ist mit einem guten Wagen aus den späten 1920er-Jahren vergleichbar.

Zur Geschichte dieses 37/90 ist von der Besitzerin, der Fondation Renaud,  (noch) nicht sehr viel zu erfahren. In den 1980er-Jahren gelangte der Wagen in den Besitz von Stifter Charles Renaud. Eigene Recherchen lassen aber auf ein bewegtes Leben im Vereinigten Königreich und einige schnelle Runden auf der Brooklands-Renn-strecke vermuten. Seit Ende 2019 ist der Mercedes nun dank eines neuen Kühlers wieder betriebsbereit.

Text: Martin Sigrist / Bilder: Vesa Eskola

Daimler Mercedes

Kettenwagen 37/90 PS
Bauzeit: 1911–1914

OHV-Vierzylinder-Doppelblock-Motor, seitliche Nockenwelle, Antrieb von der Kurbelwellenmitte via Zahnräder, Daimler-Kolbenschiebervergaser, Bohrung × Hub 130 × 180 mm, Hubraum 9500 cm3,
90 PS bei 1300/min, Druckumlaufschmierung mit Kolbenpumpe, Bosch-Magnet-Doppelzündung, Lederkonuskupplung, 4 Gänge (4:1, 2.2:1, 1.4:1, 1:1), Kettenantrieb, Aussenbacken-Handbremse am Getriebeeingang, Innenbackenbremse am Getriebeausgang auf die Räder, einzeln durch je ein Pedal betätigt, Scheibenräder v., h. 915 × 105, 935 × 135, Stahlblechrahmen, Halbeliptikfedern mit Starrachsen v./h., Spindellenkung.

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