Fiats Lehr- und Meisterstück
Der Fiat 130 ist weit mehr als ein grosses Auto. Er zeigt, wie es um Fiat Ende der 1960er-Jahre stand – im Guten wie im Schlechten.
Dante Giacosa (1905 bis 1996) hat es gewusst. Der Fiat-Chefentwickler, auf dessen Konto der Topolino, der Cinquecento, aber beispielsweise auch der Autobianchi Primula gehen – das erste Serienauto mit Quermotor und Heckklappe –, hatte bereits 1967 vorausgesehen, woran der Fiat 130 scheitern würde. Es war nicht die Technik, auch nicht dessen Qualität. Beides stimmte beim grössten Fiat, der je von den Turinern in namhaften Stückzahlen produziert worden ist.
1967 schrieb Giacosa dem Fiat-Geschäftsführer Gaudenzio Bono: «Der Fiat 130 ist ein Modell, das sich von der Klasse her dem Mercedes annähern dürfte, ohne jedoch, zumindest was die amerikanisierte Form der Karosserie anbelangt, die gleiche Feinheit zu haben.» Ein wirtschaftlicher Crash mit vorheriger Ansage? In gewissem Masse ja. Allerdings muss man den Kontext dazu kennen.
Laut Chefkonstrukteur Dante Giacosa nur wenig ästhetische Feinheit? Der Fiat 130
Konservativer Grosskonzern
Fiat hatte sich im Wirtschaftsaufschwung Italiens nach 1945 zu einem Riesenkonzern entwickelt. Der Chronist zu «100 Jahre Fiat», Riccardo P. Felicioli, erkannte 1999 bei Fiat eine selbst auferlegte «Verantwortung für das automobile Schicksal der Italiener». Doch Fiat hatte sich auch in ein starres, konservatives Gebilde verwandelt. Statt den Entwurf Giacosas für einen Mittelklassewagen nach dem Muster des an Autobianchi «hinübergereichten» Primula zu favorisieren, sollte der mehr als konventionelle Fiat 124 das automobile Glück der ständig gewachsenen italienischen Mittelklasse der 1960er-Jahre werden. Und da, wo Fiat sein Geld verdiente, mit kleinen Wagen für die Masse, sorgte der fehlende Mut für den wenig überzeugenden Fiat 850 mit Heckmotor. Renault hatte 1961 den äusserst versatilen R4L mit Heckklappe gebracht, bei BMC gab es seit 1959 den Mini mit Quermotor und Frontantrieb. Giacosa sorgte sich ernsthaft um die Prioritäten im Fiat-Universum. Der 130 hatte keine Dringlichkeit. Doch der italienische Autobauer meinte, dass er für einen oberen Abschluss des Modellprogramms quasi in einer nationalen Pflicht steht.
Luxuriöser Innenraum mit Echtholz
Unter Wert gehandelt
Ist man heute mit dem 130 unterwegs, geht es einem wie damals. Selbst diejenigen, die einigermassen vertraut sind mit den Autos der 1970er-Jahre, werden den Luxus-Turiner meist selten auf Anhieb identifizieren können. Erst hinter dem Lenkrad wird die wirkliche Klasse des Fiat 130 deutlich und hörbar – der Sound des 3,2-Liter-V6 ist unvergleichlich. Der 165-PS-Motor ist durchzugsstark, auch mit dem eher altertümlichen Dreigang-Automaten von Borg-Warner. Dank seines aufwendigen Fahrwerks, vorne mit Federbeinen, Querlenker und Drehstab, hinten mit Schräglenker und Schraubenfeder sowie rundum Scheibenbremsen, ist man noch heute selbst auf kurvenreichen Strecken flott unterwegs. Wie zu seiner Bauzeit von 1969 bis 1976 besetzt der 130 eine Nische weitab der Topolini, 500er und 124 Spider. Die Preise sind jedoch erfreulich am Boden geblieben. Nur das bildschöne Pininfarina-Coupé hat angezogen.
Originalzustand
Unser 130 gehört dem Luzerner Garagisten Christoph Kerlein. Er hat länger danach gesucht, fündig wurde er in Italien. «Es war das beste Auto, das mir angeboten wurde», erzählt er. Der silber-graue Wagen für Italiens Wirtschaftskapitäne und Ministerien – welche sich zu den wichtigsten Kunden mauserten – trägt Erstlack und die originale Innenausstattung. Kerlein brauchte die Gesamtsubstanz seines Klassikers nicht anzugreifen, sagt aber: «Der optische Eindruck der Motorperipherie, der Aufhängung und kleinen Karosseriedetails machen den Unterschied.» Tatsächlich liegt, trotz bester Substanz, erhebliche Arbeit zwischen «gut» und «hervorragend». Der Erfolg gibt ihm Recht. Sein Exemplar von 1973 hat 2017 die Limousinenklasse des Concorso d’Eleganza «Italiauto» in St. Urban (LU) für sich entschieden.
Fahren und geniessen
Doch unser Fiat 130 ist beileibe kein Showcar. Bei gutem Wetter wird das Auto gefahren. Er ist ein perfekter Familienwagen und bietet noch heute einen Komfort und eine Sicherheit, die mit dem eines Mercedes aus derselben Zeit durchaus vergleichbar sind. Zumindest in diesen Punkten haben die Turiner ihre Ziele von damals erreicht. ?
Christoph Kehrlein an Bord seines Fiat 130
Besitzer mit «Fiat» im Blut
Schon als kleiner Junge ist er durch den elterlichen Betrieb gewetzt. Seine Garage im luzernischen Dagmersellen zwischen Sursee und Zofingen führt Christoph Kerlein in dritter Generation. Seit 1958 ist der Betrieb auf Fiat spezialisiert – heute jedoch markenunabhängig. Mit erstklassigem Service und einem besonderen Fokus auf eine kundengerechte Betreuung hat sich die Garage zu einem weit herum bekannten «Geheimtipp» gemausert. Das liegt vielleicht daran, dass bei Kerlein auch Besitzer und Besitzerinnen älterer Fiat-Modelle herzlich willkommen sind und mit viel Erfahrung und Know-how Unterstützung finden. Christoph Kerleins Leidenschaft ist dabei kaum zu übersehen. Aktuell hat er einen Fiat Dino Coupé in Arbeit. Es scheint, als habe das aktive Mitglied in der Fiat-500-Szene Gefallen auch an grösseren Hubräumen gefunden.
Text: Martin Sigrist
Fotos: Vesa Eskola
Fiat 130 Berlina 1973
OHC-V6 60°, Bohrung x Hub: 102 x 66 mm, 3235 cm3, 165 PS bei 5600/min, 24,8 mgk bei 3300/min, 3-Gang-Automat (Borg-Warner), Hinterrad • 15,2 l/100 km (Werk), 0–100 km/h 13,5 s, 185 km/h • L/B/H: 4750/1805/1438 mm, Leergewicht: 1615 kg, • Bauzeit: 1969–1976, Stückzahl: 15093 Exemplare