Test

Nio ES8 - Siebenplätziges Elektro-SUV

Nio-Gründer William Li wird gerne mit Elon Musk verglichen – und jetzt drängt seine sehr selbstbewusste chinesische Marke nach Europa. Wir machten eine erste Erfahrung.

Veröffentlicht am 30.11.2022

An den ersten Auftritt von Tesla in der Schweiz kann ich mich noch gut erinnern: Einigermassen verschämt wurde mir das Fahrzeug kurz erklärt, darum gebeten, die Verarbeitungsmängel zu entschuldigen, darauf aufmerksam gemacht, dass ich doch bitte nicht zu weit weg fahren solle von Bern, mit dem Aufladen könne es sonst Probleme geben.

Namensstreit mit Audi

13 Jahre später, nicht im kleinen Bern, sondern im mächtigen Berlin, kündigt zwar nicht Nio-Gründer William Li persönlich den europäischen Markteintritt seiner Marke an, sondern der unbekanntere Co-Gründer Qin Lihong. Das Nio-House liegt direkt neben der Gedächtniskirche. Der Auftritt ist mehr grossspurig, luxusaffine Kunden will man locken. (Nio lenkt ein: autos jetzt auch kaufbar.)


In Dänemark ist es erlaubt, mit dem Auto auf Strände zu fahren, keine Angst.

Doch so vollmundig die Erklärungen des zweiten Mannes hinter dem «Elon Musk von China» auch tönen, er hat auch ein paar Überraschungen zu bieten. Etwa die Umbenennung der aktuellen Fahrzeugpalette, aus den ES6, ES7 und ES8 werden die ET5, EL7 und ET7. Damit gehen die Chinesen einem Namensstreit mit Audi aus dem Weg. Die Deutschen hatten geklagt, dass ES zu sehr wie S töne, und darauf bestehe das Recht auf geistiges Eigentum. Wie man einen Buchstaben schützen kann, das verstehe, wer wolle. Die Chinesen haben auf jeden Fall eingelenkt, man habe Wichtigeres zu tun.

Schweiz, wo ist die Schweiz?

Die zweite grosse Überraschung war der EL7. Zwar wird das Luxus-SUV bereits seit einigen Monaten in China verkauft, doch mit dem baldigen Markteintritt auch in Europa rechnete eigentlich niemand. Überhaupt wollen die Nio-Männer und -Frauen innert weniger Monate ein ziemlich volles Modellprogramm aufgleisen. In Norwegen sind sie schon vertreten, ab sofort kommen auch noch Deutschland, Schweden, Dänemark und die Niederlande dazu. Auf die Frage, ob auch in der Schweiz bald Nio-Fahrzeuge verkauft werden, schaute Qin Lihong etwas verständnislos – Schweiz?

Mit Erfolg


Selbst ohne Referenzpunkte macht der Nio ES8 seine üppigen Abmessungen mehr als deutlich.

William Li und Qin Lihong hatten Nio 2014 gegründet – und wollten von Anfang an nur Elektroautos verkaufen. 2018 stand die Firma dann vor dem Aus, musste mithilfe der Provinz Anhui und der Stadt Hefei gerettet werden, kam schliesslich an die Börse – und war auf einen Schlag 60 Milliarden Dollar wert. Mittlerweile ist es zwar nur noch die Hälfte, doch unterdessen haben die Chinesen dafür in ihrer Heimat schon fast 250'000 E-Fahrzeuge verkauft – Tendenz stark steigend. Derzeit werden die meisten zwar noch auswärts produziert, doch das neue Nio-Werk in Hefei ist auf eine Jahreskapazität von 500'000 Exemplaren ausgelegt.

E-SUV mit sieben Plätzen


Verarbeitung und Materialqualität des Nio sind tadellos.

Szenenwechsel ins winzige Tver-stedt nach Dänemark. Im Dauerregen steht ein schwarzer Nio ES8 – neu wohl EL8. Das einzige und bisher nur in Norwegen verfügbare Nio-Modell in Europa. Es ist ein mächtiges Teil. Klar über fünf Meter lang, fast zwei Meter breit, 1,75 Meter hoch und trotz Voll-Alu-Karosse rund 2,5 Tonnen schwer. Bei unserem Fahrzeug handelt es sich um einen Siebenplätzer. Da müssen wir schon nachdenken: Gibt es überhaupt ein weiteres E-Auto mit sieben Sitzen? Tesla Model X? Kann man den noch kaufen? Und der Mercedes EQB spielt ein paar Klassen weiter unten. (Noch mehr aus China: Smart #1 im Test.)

Unter Beobachtung

Also setzen wir uns mal rein. Platz ist reichlich, doch wir fühlen uns sofort beobachtet. Dem ist auch so. Nomi heisst eine Kugel auf der Mittelkonsole, die uns aus Kulleraugen anschaut. Eigentlich ist Nomi so etwas wie Alexa. Man kann das Ding ansprechen, es führt Befehle aus, die Heizung wärmer stellen, Radiostationen suchen, man kann es sich vorstellen. Doch Nomi kann mit seiner künstlichen Intelligenz anscheinend noch viel mehr – wir wollen es uns nicht vorstellen.


Dürfen wir vorstellen: Nomi. Der ständige Begleiter in
allen Nio, so etwas wie Alexa, aber cleverer. Man fühlt
sich allerdings ständig beobachtet.

Das mit den technischen Daten des Nio ist etwas schwierig. Wir wissen, dass das SUV über eine 100-kWh-Batterie verfügt, damit auf eine Reichweite von 580 Kilometern kommen und umgerechnet 544 PS stark sein soll. Vielleicht ist dem auch nicht so. Es gibt den Chinesen auch in anderen Ausführungen, aber es kann und will uns niemand Auskunft geben. Beim Fahren fühlt sich der Chinese gross und schwer an – und sehr potent. Also ist es wahrscheinlich doch die stärkste Variante, die in weniger als fünf Sekunden auf Tempo 100 beschleunigt und maximal 200 km/h schnell sein kann. Ansonsten ist das Fahrerlebnis eher schwammig. Nicht schlechter als in anderen E-Autos, aber sicher auch nicht besser.

Reichlich Verwirrung

Was aber erstaunlich gut ist: die Verarbeitung. Die verwendeten Materialien sind jetzt nicht edler oder nachhaltiger als in den meisten anderen Fahrzeugen, doch es ist Leder mit schönen Nähten und auch sonst ganz viel Bling-Bling. Und Nomi schaut uns zu, während wir fahren. Für die hinteren Passagiere gibt es mehr als reichlich Platz. Weiter hinten ist entweder ein riesiger Kofferraum oder halt Platz für zwei weitere Mitfahrer – die Raumausnutzung ist vorbildlich. Genau so, wie sie es nur in einem E-Auto sein kann.


Typisch E-Auto: Die Raumausnutzung im ES8 ist vorbildlich.

In Norwegen tritt der voll ausgestattete Nio ES8 zu einem Preis von rund 65'000 Euro an. Das ist nicht günstig. Oder eben doch, denn wir bewegen uns im Nio ES8 doch eher auf dem höchsten Niveau eines E-Automobils – grosse Batterie und Reichweite, viel Power und Platz, reichlich Luxus. Und so ist der Wagen irgendwie auch nicht vergleichbar. Es gibt ausser dem Tesla Model X nichts im gleichen Segment. Wobei: Von der Nio-Website ist der ES8 unterdessen verschwunden. Es werden nur noch der ET7, eine sehr hübsche Limousine, das SUV EL7 und die sehr stark dem Tesla Model 3 gleichende Limousine ET5 angeboten. Ja, wir sind etwas verwirrt. Aber vielleicht müssten wir einfach Nomi fragen.

Text und Bilder: Peter Ruch

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