ai+: Saisonrückblick Formel-1-Saison 2023

Formel 1 2023 - Der grosse Widerspruch

2023 geht als die Saison eines Mannes und eines Teams in die Geschichte ein. Nie zuvor sah die Formel 1 eine solche Dominanz. Obwohl Max Verstappen und Red Bull als Sieger feststanden, nahm das Geschäft keinen Schaden.

Veröffentlicht am 28.12.2023

Es ist der Albtraum jedes Kabarettisten. Das Publikum kennt die Pointe schon vorher. So ungefähr musste sich die Formel 1 in ihrer 74. Saison seit 1950 vorgekommen sein. Max Verstappen gewann 19 von 22 Grands Prix, Red Bull 21. Der 26-jährige Niederländer sammelte 575 von 620 verfügbaren Punkten ein. Das sind 92,7 Prozent, mehr, als Mercedes oder Ferrari als Team schafften, und natürlich einsamer Rekord. Michael Schumacher schaffte 2002 in seiner erfolgreichsten Saison 84,7 Prozent des theoretisch möglichen Pensums.

Wenn wir gerade bei Zahlen sind: Max Verstappen absolvierte jeden der 6698 Kilometer der GP-Saison 2023 und führte 4914 Kilometer davon an. Er gewann vier der sechs Sprints, stand zwölf Mal auf der Pole-Position und holte sich neun Mal den Zusatzpunkt für die schnellste Rennrunde. Die Bilanz von Red Bull ist nicht weniger eindrucksvoll. Die beiden Autos kamen ohne einen Defekt über die Saison. Der Team-Weltmeister häufte mehr Punkte an als Mercedes und Ferrari zusammen. Und das mit 12 Prozent weniger Windkanalzeit als bei Ferrari und 17 Prozent weniger als bei Mercedes.

Red Bull RB19 als bestes Auto

Man könnte jetzt sagen: Bayern München wird auch immer deutscher Meister, und die Fussballfans ertragen es. Der Unterschied ist, dass der Weg zum Titel für den Münchner Schickeria-Club meistens mit ein paar Krisen dazwischen gepflastert ist. Verstappen und Red Bull schwächelten nur ein einziges Mal. In Singapur verirrten sich die Ingenieure mit dem Set-up. Weil ihnen die Simulation falsche Vorschläge gemacht hatte. Auch ein Wunderauto strauchelt, wenn es falsch eingestellt ist. Und dieses eine Mal griff Ferrari zu. Ausgerechnet Ferrari, die nicht gerade im Ruf stehen, ihre Chancen zu nutzen. Man hätte es eher Mercedes, McLaren, ja sogar Aston Martin zugetraut.

Seltene Gegenwehr: In Las Vegas musste Verstappen um den Sieg mit Leclerc kämpfen. Es war das beste Rennen des Jahres

Der Red Bull RB19 war das beste Auto, weil er in allen Geschwindigkeitsbereichen zuverlässig Abtrieb lieferte. Das ist mit diesen Groundeffect-Autos ein Kunststück. Der Anpressdruck, der zwischen dem Unterboden und der Straße generiert wird, ist stark abhängig von der Bodenfreiheit im Heck. Die schwankt, je nach Geschwindigkeit, je nachdem, wie das Auto um die Längsachse rollt, nach vorne oder hinten einnickt und wie stark die Vorderräder eingeschlagen sind. Millimeter können riesige Unterschiede ausmachen. Red Bulls Gegner operierten in einem winzig kleinen Fenster, in dem die Aerodynamik funktionierte.

König an zwei Fronten

Deshalb war der RB19 in doppeltem Sinne der König. Mehr Grip über die gesamte Bandbreite an Kurven bedeutet weniger Rutschen, und weniger Rutschen schont die Reifen. Es braucht nicht viel dazu, dass die Pirelli-Sohlen überhitzen, und ein Mal zu heiss heisst immer zu heiss. Je älter die Reifen, umso grösser der Effekt. Kamen dann noch Wind, hohe Temperaturen oder Fahren im Verkehr dazu, ging die Schere zum Klassenbesten schnell auf.

Formel 1: Kick für Sauber

Auf eine Runde in der Qualifikation überdeckte der Klebstoff frischer Reifen die Defizite von Red Bulls Rivalen. Deshalb konnten Charles Leclerc und Carlos Sainz den Ferrari sieben Mal auf die Pole-Position stellen. Deshalb waren Ferrari, Mercedes, McLaren und Aston Martin auf eine Runde näher dran als über die Distanz. Nur McLaren schaffte es mit vielen Upgrades, den Abstand zu Red Bull auch auf gebrauchten Reifen zu verkürzen.

Auf Anhieb gut: Rookie Piastri setzte für alle Neulingn die Messlatte hoch. Er gewann in Katar den Sprint.

Nach einem Geheimnis oder dem magischen Trick suchte die Konkurrenz vergebens. Wenn es ein Geheimnis gab, dann lag es in der Architektur des Red Bull. Das Chassis war länger, das Getriebe kürzer, beide Komponenten unten wie ein Kajak zugespitzt. Das erlaubte einen stärkeren Einzug der Seitenkästen und eine größere Expansion des Diffusors. Die Gegner werden es 2024 nachmachen, doch McLaren-Teamchef Andrea Stella warnt davor, Wunderdinge zu erwarten: «Diese Features allein machen das Auto nicht schneller. Sie schenken dir Volumen, das es dir erlaubt, mit der Aerodynamik mehr zu spielen. Du musst den Vorteil aber auch nutzen können.»

Die Schlacht um die Silbermedaille war ein Vierkampf. Mercedes und Ferrari waren von Anfang bis Ende dabei. McLaren kam erst ab dem neunten WM-Lauf in Fahrt. Aston Martin ging dafür im Schlussspurt etwas die Puste aus. Mercedes rettete den zweiten Platz mit drei Punkten Vorsprung über die Ziellinie, zeigte in der zweiten Halbzeit aber starkes Fading. Hätte die Saison erst nach der Sommerpause begonnen, wäre Ferrari mit 215 Punkten vor McLaren (199), Mercedes (162) und Aston Martin (84) Vizemeister geworden.

Die Erleuchtung von Zandvoort

Die stark unterschiedlichen Saisonhälften hingen nicht nur mit dem Entwicklungsfahrplan zusammen. Viel wichtiger war es, die Schwachstellen seines Autos verstanden zu haben. Ferrari kam die Erleuchtung in Zandvoort. Dort opferte das Team ein Training für Experimente, die gewisse Verdachtsmomente aus dem Windkanal erhärten sollten, warum der SF-23 in lang gezogenen Kurven so viel Zeit verlor. «Danach haben wir unser Auto besser verstanden», gab Technikdirektor Enrico Cardile zu.

Audi will nach wie vor in die Formel 1

Obwohl Ferrari in den letzten zehn Rennen nur noch einen neuen Unterboden brachte und die Problemzonen nicht abarbeiten konnte, weil die Geometrie des Chassis im Weg stand, holte man noch 53 Punkte auf Mercedes auf. «Wenn du den Teufel kennst, kannst du ihn besser bekämpfen», erzählte Teamchef Frédéric Vasseur. Der neue Unterboden gab Charles Leclerc das Fahrgefühl zurück, das er lange vermisst hatte: «Zu Beginn des Jahres waren wir gezwungen, das Auto auf Untersteuern einzustellen, um die heftigen Reaktionen des Hecks einzudämmen. Das passt nicht zu meinem Fahrstil. Mit dem neuen Boden ging die Tendenz wieder Richtung Übersteuern.»

Wundertüte Mercedes

Im gleichen Masse litt Teamkollege Carlos Sainz. Für Mercedes war der Herbst der Formel 1 eine Achterbahnfahrt. Das Auto passte mal Lewis Hamilton, mal George Russell, aber selten beiden. Es dauerte immer drei Trainingssitzungen, bis eine halbwegs akzeptable Fahrzeugabstimmung gefunden war. Oft mussten Mick Schumacher und andere Testfahrer im Simulator eine Nachtschicht einlegen, um den Problemen auf den Grund zu gehen.

Wundertüte Mercedes: Der W14 war schwer abzustimmen und schwer zu fahren. Es war die erste Saison ohne Sieg seit 2011.

Das hatte nicht nur mit dem kleinen Arbeitsfenster des kapriziösen W14 zu tun. Es fiel den Fahrern auch schwer, die Reifen für eine schnelle Qualifikationsrunde zu konditionieren. Waren sie zu vorsichtig in der Aufwärmrunde, passte die Temperatur im Reifen nicht. Dort, wo eine aggressive Aufwärmphase gefragt war, strafte sie ein anderes Phänomen. «Dann war die oberste Gummischicht schon abgehobelt, bevor die schnelle Runde begann. Die gibt dir aber den Extra-Grip», beschrieb Russell das Dilemma.

Hat Mercedes einen Kompass?

Die bis zuletzt stark schwankenden Vorstellungen des Autos liessen Zweifel, ob Teamchef Toto Wolff mit seiner Behauptung recht hat, die Ingenieure hätten alles verstanden und für 2024 die Lösungen parat. Auch Hamilton glaubt: «Wir haben unseren Kompass wiedergefunden.» Doch der Rekordsieger, der jetzt im zweiten Jahr in Folge sieglos blieb, sagt auch: «Alles wegwerfen und neu machen geht genauso wenig wie kopieren. Unsere Ingenieure sind nervös, dass sie mit einem zu grossen Schritt in die falsche Richtung laufen.»
McLaren hat ein Kunststück geschafft, das in Zeiten des Kostendeckels eigentlich nicht mehr möglich ist.

SynFuels im Schweizer Motorsport

Der britische Rennstall sprang mitten in der Saison vom Tabellenende direkt in die Verfolgergruppe hinter Red Bull. Dazwischen lagen fünf grosse und acht kleine Entwicklungsschritte. Startschuss der Transformation war das Debüt der B-Version des MCL60 beim GP Österreich. Danach zeigte die Formkurve ständig bergauf. Lando Norris und Rookie Oscar Piastri lieferten auf der Strecke ab, was ihr Auto konnte. Auf eine Runde und im Sprint konnten sie Max Verstappen ab und an herausfordern. «Über die Distanz haben bei uns die Reifen noch eine Spur schneller abgebaut als bei Red Bull», stellte Norris fest. Teamchef Stella beziffert den Rückstand im Rennen auf zwei bis vier Zehntel: «Zu Saisonbeginn waren es eineinhalb Sekunden.»

Aston Martin überraschte

Aston Martin war die Überraschung der ersten Saisonhälfte. Die Luxusmarke kehrte aus der Winterpause als Favoritenschreck zurück. Bis zum GP Monaco lag Aston Martin auf dem zweiten Platz der Marken-WM, und dabei ging ein Großteil der Ausbeute auf das Konto von Fernando Alonso. Der mit 42 Jahren älteste Fahrer im Feld stand in den ersten acht Rennen sechs Mal auf dem Podium. Danach nur noch zwei Mal. Teamchef Mike Krack warnte davor, falsche Schlüsse zu ziehen: «Wir waren am Anfang so gut, weil unsere Konkurrenten schlechter in die Saison gestartet sind als erwartet.»

Der alte Mann will mehr: Alonso ist mit 42 Jahren kein bisschen leise; nach acht Podestplätzen 2023 will er nächstes Jahr gewinnen.

Das erzählt die Geschichte von Aston Martin. Als das Designbüro in Montreal mit einem neuen Unterboden und modifizierten Seitenkästen die Lücke zum Klassenbesten schliessen wollte, passierte das Gegenteil. Die Entwicklung endete in einem Irrgarten mehrerer Versionen des Unterbodens. Erst eine Bestandsaufnahme von dem, was funktionierte und was nicht, ergab ein Patchwork, das leidlich funktionierte. Alonso verteidigt sein Team: «Diese Autos sind aerodynamisch unheimlich komplex. Wir mussten ein bisschen experimentieren, um für nächstes Jahr eine Richtung zu finden. Ich war ein bisschen nervös, ob wir noch die Kurve kriegen, aber seit dem GP Mexiko verstehen wir einige Dinge besser als vorher.»

Alpine mit Leistungsdefizit

Alpine fuhr sein eigenes Rennen zwischen den beiden Tabellenhälften. Der französische Rennstall hatte den sechsten Platz für sich reserviert, mit genügend Luft nach oben und nach unten. Neuzugang Pierre Gasly räumte ein: «Wir haben unsere Saisonziele verfehlt.» Alpine wollte Platz vier halten und zur Spitze aufschliessen. Weder das eine noch das andere trat ein. Dem Motor fehlten 20 bis 30 PS. «Wir speichern zu wenig Energie und speisen deshalb auch zu wenig in das System ein», übte Teamchef Bruno Famin Selbstkritik. Auch Technikchef Matt Harman nahm sich in die Pflicht: «Unser Chassis hat zu viel Volumen. Wir hatten zu viel der optimalen Kühlung geopfert.»

Kompaktes Mittelfeld: Alpine führt die zweite Hälfte des Feldes mit Williams, AlphaTauri, Sauber und Haas F1 an.

Die vier Teams am Ende des Feldes haben zusammen 81 von insgesamt 2460 WM-Punkten gehamstert. Das entspricht einer Quote von 3,29 Prozent. Williams war ein Meister der Effizienz. Alexander Albon holte dort zuverlässig Punkte, wo das Auto gut war. Teamchef James Vowles bescheinigt dem Thailänder Weltmeister-Qualitäten. Am Ende des Jahres bekam Williams Konkurrenz von dem Team, das bis zur Halbzeitpause mit drei Punkten auf dem Konto das schlechteste war.

AlphaTauri kämpfte sich mit einem beispiellosen Entwicklungsprogramm aus dem Tabellenkeller und hätte fast noch Williams vom siebten Platz gestossen. Die Ingenieure brachten 18 Upgrades mit 65 Detailänderungen in 22 Rennen, einige davon so umfangreich, dass man getrost von einer B-, C- oder D-Version sprechen konnte. Nachdem Red Bull ab dem GP Singapur die Hinterachse des RB19 spendierte und Teile des Unterbodens stark an den des grossen Bruders erinnerten, wurde im Fahrerlager das Grummeln lauter, dass die beiden Teams mehr Doppelpass spielten als erlaubt. Zum Nutzen beider.

Sauber blieb unsichtbar

Sauber blieb von Anfang bis Ende in der Versenkung. Das Auto des künftigen Audi-Rennstalls war nur unter ganz bestimmten Bedingungen konkurrenzfähig. Die Fahrer konnten es nicht retten. Valtteri Bottas hat im Kopf schon den Rücktritt eingereicht, und aus Guanyu Zhou wird kein Ausnahmefahrer mehr. Oscar Piastri hat mit zwei Podestplätzen und einem Sprint-Sieg allen Neulingen der jüngeren Zeit gezeigt, wo die Messlatte liegt.

Sturzflug: Pérez wurde Vize-Weltmeister, enttäuschte aber trotzdem. Sein Startcrash in Mexiko stand für eine schwierige Saison.

Nico Hülkenberg kehrte nach drei Jahren Pause in ein schwieriges Umfeld zurück. Sein Haas F1 erlaubte ihm neun Startplätze in den Top Ten, liess ihn im Rennen aber meistens im Stich. Der US-Ferrari frass seine Reifen, auch als man versuchte, ab Austin mit einer B-Version gegenzusteuern. Der Abtrieb schwankte zu stark, und das Fahrwerk nahm speziell die Hinterreifen zu hart ran. «Ein, zwei Mal rutschen, und die Oberflächentemperatur ging durch die Decke. Deshalb war ich im Rennen oft ein Sonntagsfahrer», bedauerte der Rheinländer, der in seiner elften GP-Saison neun Punkte mit nach Hause nahm.

Das Event als Magnet

Die Rechte-Inhaber meldeten trotz der Verstappen-Show Rekordeinnahmen für 2022, und sie werden für dieses Geschäftsjahr noch einmal einen auf die 2,573 Milliarden Dollar draufsetzen. Eigentlich müsste ihnen die Dominanz eines Fahrers Sorgen machen, doch irgendwie hat sich das Produkt Formel 1 losgelöst von dem, was auf der Strecke passiert. Ein Grand Prix ist ein Event geworden, bei dem man an kultigen Plätzen drei Tage seinen Spass hat. Egal wer gewinnt. Dass ein GP-Besuch ein teures Vergnügen ist, tut dem Zuschauerzuspruch vor Ort keinen Abbruch. Im Gegenteil. Wer lässt nicht gerne ein bisschen Luxus raushängen.

Der Dominator: Selbst Verstappen ist der Ansicht, dass es schwer wird, seine Rekorde von 2023 zu überbieten.

Alle anderen können sich bei Social Media austoben, wo die Zahlen angeblich auch im Höhenflug sind. Anders sieht es bei den TV-Quoten aus. Dort, wo die Formel 1 hinter der Bezahlschranke verschwindet, sinkt der Zuspruch. Wer zwei Stunden vor der Glotze opfert, erwartet Spannung. Um die zurückzuholen, werden bereits Zirkusnummern wie eine umgekehrte Startreihenfolge für die Sprintrennen diskutiert. Da kann sich Liberty leicht die Finger verbrennen. In der Leistungsgesellschaft Formel 1 gibt es zwei No-Gos: Balance of Performance und umgekehrte Startreihenfolge.

Text: Michael Schmidt
Fotos: Wolfgang Wilhelm

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