Motorsport

Formel E oder Formel 1? Eine emotionale Frage

Bisher galt die Formel 1 als die unbestrittene Königsklasse des internationalen Automobilsports. Wird die zukunftsorientierte Formel E ihr allmählich den Rang ablaufen? Diese Frage versucht der Schweizer Motorjournalist Roger Gloor für die Leser von auto-illustrierte.ch zu beantworten.

Veröffentlicht am 21.08.2020

Die 13 Rennen umfassende fünfte internationale Formel-E-Saison, der Rennen mit Elektrorennwagen,  lief von Ende 2018 bis Juli 2019. «E-Weltmeister» wurde wie schon in der Vorjahressaison der Franzose Jean-Eric Vergne. Was aber verblieb in der Erinnerung der Fans und des breiteren Publikums von dieser Rennserie? Ein Vergleich mit der bis ins Jahr 1906 zurückreichenden und seit 1947 unter dem Begriff «Formel 1» stehenden Grand-Prix-Geschichte drängt sich auf.

So wie 2018 bereits in Zürich, ist die Formel-E-Saison im vergangenen Jahr in Bern durch einen viel beachteten Schweizer Lauf bereichert worden. Doch die «Elektrohatz runter zum Bärengraben» brachte so viele negative Aspekte und Kommentare und überdies eine üble finanzielle Nachgeschichte, dass längst niemand mehr an eine Wiederholung denkt. Ebenso verliefen Vorschläge für einen E-GP in der Westschweiz oder im Tessin im Sand. Immerhin ist den beiden rot-grün dominierten Deutschschweizer Metropolen hoch anzurechnen, dass sie das Wagnis E-Grand Prix auf sich genommen haben.

Nach all der Kritik an Durchführung und Organisation gilt zu beachten, dass die «Öko-Rennserie» als Alternative zur CO2-intensiven F1-WM gilt. Motorsportskeptiker ebenso wie manche Fans rechnen damit, dass sie eines Tages die Formel 1 ablöst. Das Wochenende vom 22./23. Juni 2019 hatte die Möglichkeit gebracht, das Renngeschehen beider Kategorien zeitnahe am Fernsehen in Vergleich zu ziehen. Dies, nachdem man in Bern bereits während der E-Prix-Qualifikationen das eindrückliche Vorbeizischen der Monoposto-Boliden aus nächster Nähe miterleben konnte.

Der Unterschied ist gewaltig!

Aber die Differenz zwischen einem E- und einem F1-Grand Prix liegt bei weitem nicht nur in der Akustik. Zwar ist der optische Auftritt der Wagen beider Kategorien – einschliesslich des aerodynamischen Flügelwerks und des ausgeklügelten Kopfschutzbügels – sehr ähnlich. Zudem treten die Konkurrenten in beiden Rennfeldern in Zweierteams an, auch wenn es bei den «Elektrischen» 24 statt zwanzig Rennwagen sind. Aber damit sind die Parallelen schon weitgehend ausgeschöpft. 

Wie bei den Formel-1-Boliden stehen auch bei den Formel-E-Einsitzern Automarken mit ihm Spiel. Aber man vermag sie trotz buntem Anstrich kaum auseinanderzuhalten: Da gibt es die Markennamen Audi, BMW, DS, Jaguar und Nissan sowie das indische Autofabrikat Mahindra und die monegassische Luxus-Elektrosportwagenmarke Venturi. Für 2020 sind nun zudem Jaguar und Porsche hinzugekommen. Zwar umfasst auch die Formel 1 einige Teamnamen ohne direkten Autobezug. Aber man hat Namen wie Red Bull (neu: Aston Martin Red Bull), Toro Rosso (2020: Alpha Tauri) inzwischen akzeptiert. Doch bleiben in der Formel E Marken wie Nio oder Geox-Dragon Fremdkörper... auch wenn das Schuhmaterial Geox ebenso der Fortbewegung dient wie Porsche.

Die Formel E liefert den Eindruck, dass die gesamte Technik und Elektronik unabhängig von den dahinterstehenden Konstrukteuren zwischen den Teams austauschbar sind. So konnte Renault sein Formel-E-Team 2019 einfach an den Konzernpartner Nissan weiterreichen, samt dem Schweizer Spitzenpiloten Sébastien Buemi. Dies nachdem die Renault-Führung sich dazu entschlossen hatte, 2019 ausschliesslich auf die Formel 1 zu setzen. 

Auch in der Formel 1 schränken reglementarische Vorgaben die technische Diversität radikal ein. Aber es gibt einen enorm ins Gewicht fallenden Unterschied: Vier Automarken liefern allen zehn Teams die Motoren..., und sie stammen aus vier Ländern, die einen jahrzehntealten Bezug zum Automobilsport haben. Sie ziehen ebenso technisch wie emotionell die Kenner und Rennenthusiasten in ihren Bann: Mercedes aus Deutschland, Ferrari aus Italien, Renault aus Frankreich und Honda aus Japan. Dies sind rennhistorisch klangvolle Markennamen, mit denen sich manche Autofans identifizieren. Der Kenner denkt zurück an die Mercedes-Benz SLR oder sogar das Flügeltürencoupé der 50er Jahre, an die Ferrari-Modelle der 250er-Serie mit den famosen V-12-Motoren der 60er Jahre, an die Renault-Rennwagen, mit denen die ersten Lorbeeren in den F1-Turboära geholt wurden. Für die traditionsbewussten Rennsportfreunde besitzt das Geschehen auf der Formel-1-Rennstrecke vor allem darum einen weit höheren Stellenwert, weil hier historisch belegtes technisches Prestige mit im Spiel ist.

Dazu das Renngeschehen ...

Geradezu frappant unterschiedlich gab sich an jenem Wochenende vom 22./23. Juni der Rennverlauf in Bern und in Le Castellet:  Auf dem engen, von Gittern abgeschirmten Streckenverlauf in der Bundesstadt war ein Überholen fast unmöglich. Dies trifft auch auf alle anderen E-GP zu: Weil diese Formelrennwagen meist in Einerkolonne – sozusagen Stossstange an Stossstange, wenn sie denn solche hätten – pilotiert werden, ist das Ausscheren aus diesem «Tatzelwurm» höchst riskant. Denn damit gerät der Angreifer unvermittelt in erhöhten Luftwiderstand, und zudem wird der nachfolgende Konkurrent die entstandene Lücke sogleich schliessen, so dass eine Rückkehr in die Strömung kaum mehr zu schaffen ist. Kommt hinzu, dass der Angreifer in der nächsten Biegung die Ideallinie meist der Fahrkolonne überlassen muss.

Wäre im vergangenen Jahr in Bern nicht André Lotterer – auch er ein ehemaliger Le-Mans-Mitsieger, wie 2019 erneut Sébastien Buemi – um einige Plätze nach vorne gerückt, so hätte es zum Rennverlauf kaum etwas zu notieren gegeben ..., abgesehen vom «Verkehrsstau» in der ersten Kurve mit 40-minütigem Unterbruch. Eigentlich wickelte sich der E-Prix Bern so ab, wie die traditionellen Schweizer Bergrennen: Es war nahezu ein Einzelzeitfahren, denn für den Ausgang waren weitgehend die Qualifikationszeiten massgebend.

Ganz anders der F1-Grand Prix de France von jenem Wochenende: Auch wenn die Mercedes-Doppelsiege Hamilton/Bottas zur langweilenden Routine geworden waren, so liessen sich in den Rängen hinter diesem Duo einmal mehr spannende, teils bis zum Rennende offenbleibende Duelle verfolgen. Deren oft unerwarteter Ausgang veranschaulicht, dass die Formel 1 hinsichtlich Rennverlauf der Formel E bei weitem überlegen ist. Dies bewiesen auch die jüngsten in der zweiten Jahreshälfte 2020 ausgetragenen F1-Läufe. – Immerhin sorgt die grosse Abwechslung hinsichtlich Siegernamen bei der E-Meisterschaft für ein gewisses Gegengewicht.

... und die Örtlichkeiten

Der zumindest theoretisch grosse Vorteil der Formel E liegt in ihrem Austragungsort: unmittelbar im Stadtgebiet, wo Heerscharen von Publikum direkt angesprochen werden kann, sowohl von den bereits dem Elektroantrieb verschriebenen Autoherstellern wie von den Zuliefer- und Sponsorfirmen. Zudem lässt sich so das Massenpublikum von der noch weitgehend unterschätzten Leistungsfähigkeit des Elektroantriebs überzeugen. Mit dem Modelljahr 2020 setzen weitere Autohersteller intensiviert auf Modelle mit Elektro- oder zumindest Hybridantrieb, und die Formel E dient ihnen verstärkt als «Motivationsvehikel».

Der weit spannendere Rennverlauf der Formel 1 ist auch den spektakulären und mitentscheidenden Radwechseln sowie Strategieeinflüssen zu verdanken. Dem kann die Formel E allenfalls die Beschleunigungszonen bzw. den «Attack Modus» und den am TV-Bildschirm ablesbaren Stromverbrauch entgegensetzen. Doch dies vermag das Mitfiebern für bevorzugte Rennteams der F1-Zuschauer kaum aufzuwiegen. Sollte die Formel 1 dereinst auf Elektroantrieb umstellen, so müssten ihre WM-Läufe weiterhin auf den bestehenden Grand-Prix-Anlagen mit ihren ebenso grosszügig breit wie sicher angelegten Pisten ausgetragen werden und gewiss nicht in den mit gewaltigem logistischem Aufwand von Stadt zu Stadt transferierten «Laufgittern»! Gerade als TV-Zuschauer geniesst man die weit grössere räumliche Übersicht auf die in unterschiedlichem Gelände eingebetteten traditionellen Rennstrecken. Die auf ihnen gegebenen wesentlich höheren Geschwindigkeiten eignen sich vorerst allerdings nicht für E-Rennwagen. Deren eingeschränkter Stromvorrat käme bei F1-Tempi nach allzu kurzer Renndauer zum Erliegen. Abhilfe könnten allenfalls in den Streckenverlauf eingebaute zusätzliche Bremsschikanen oder während der Rennen austauschbare Batteriepakete bringen...

Anderseits bietet die Formel E für die Schweizer TV-Zuschauer einen zusätzlichen Reiz, weil in dieser Saison gleich vier einheimische Fahrer mit von der Partie sind: Nebst dem Waadtländer Sébastien Buemi (dessen Grossvater einst nicht nur Bergrennen fuhr, sondern seine Einsatzwagen unter der Markenbezeichnung Cegga selber konstruierte), der Berner Seeländer Neel Jani (wie Buemi ein sehr erfolgreicher Langstrecken-Rennfahrer), der Italo-Genfer Edoardo Mortara und der Berner Oberländer Nico Müller (zudem Spitzenpilot in der Deutschen Tourenwagen-Meisterschaft, in der bis 2019 auch Mortara im Einsatz stand). Ob diese Namen je so klangvoll sein werden wie Siffert oder Regazzoni bleibt abzuwarten. Sicher aber bleiben die Namen von Formel-1-Champions wie Fangio, Senna, Schumacher, Vettel und Hamilton noch lange in glanzvoller Erinnerung. – Und wie heisst der amtierende Formel-E-Weltmeister? Ja, Jean-Eric Vergne.

 

Text: Roger Gloor
Fotos: Hersteller


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