Lamborghini Countach - Gandinis Erbe
Es ist nie leicht, ein Erbe fortzuführen. Gemessen wird man stets am Original. Lamborghinis Lösung beim neuen Countach: Blick nach vorne. Wir ergründen, ob der Wiedergänger trotzdem noch etwas vom Geist von einst versprüht.
Als Endgegner hat sich mein Schicksal einen rostigen Fiat Ducato ausgesucht. Gemächlich tuckert die Dieselpritsche über die zerfurchte und verflucht schmale Landstrasse von Sant’Agata und ich soll überholen – in einem 2,1 Meter breiten, millionenteuren, 814 PS starken V12-Monster namens Lamborghini Countach LPI 800-4. Na toll. Der Superstier gehört ins Kinderzimmer, in 2D auf ein grosses Poster gedruckt. Oder aufs Smartphone, als leckerer Bildschirmhintergrund. Aber um Gottes willen nicht auf italienische Landstrassen, denke ich mir in Dauerschleife.
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Quadratmetergrosse Schlaglöcher musste ich in den letzten 20 Minuten umfahren, wild gewordenen Vespas ausweichen, hunderte Daumen-hoch erwidern – und das alles in einem Auto mit der Übersichtlichkeit eines Radschützenpanzers. Aber es hilft alles Fluchen nichts, ich muss am Ducato vorbei. Sonst ist unser Guide weg, und wir sind verloren – mitten in der italienischen Pampa. Also Blinker setzen, links raus und beten, dass es passt. Tut es, zum Glück. Ab jetzt kann es nur noch besser werden. (Lamborghini Sterrato: Stier auf Anabolika.)
Nicht nach Gandinis Design-DNA
Etwas Aventador schimmert durch. Egal, der Countach fasziniert dennoch aus jedem Winkel.
Sieht in Echt noch viel umwerfender aus, glauben Sie uns.
Aber was ist das überhaupt für ein Auto, das solche Schweissbäder hervorrufen kann? Trotz seines Namens kein Retrosportwagen, wie Lamborghini nachhaltig versichert. Angelehnt an den legendären Keil aus den 1970er-Jahren soll der LPI 800-4 mehr eine Art Neuinterpretation sein. Motto: Wie sähe der Countach aus, wäre er 50 Jahre später geboren? Man hört ja, dass Marcello Gandini, Designikone und Urvater des Originals, nicht so richtig hinter der Schöpfung steht. Mit der Gestaltung jedes neuen Lamborghini habe er Neues gewagt. Ein Design zu wiederholen, würde den Prinzipien seiner Design-DNA nicht gerecht.
Drama beherrscht Lamborghini wie keine zweite Automarke auf diesem Planeten.
Ohne dem Meister entgegenreden zu wollen: Eine Kopie ist der neue Countach nicht. Die technische Basis liefert der Sian – und das kann der Keil nicht verstecken. Klar, die eckigen Radhäuser und die flache, rechteckige Front zitieren das Original. Die schlitzigen Scheinwerfer gehen genauso als Hommage an die einstigen Leuchten durch wie der Glaskeil im Dach an den Periscopio-Rückspiegel. Aber sonst: Sian und Aventador, egal ob Rückleuchten oder Greenhouse.
Der Begriff «Keilform» wurde für den Lamborghini Countach geradezu erfunden.
Nicht als Kritik verstehen, sondern als reine Beobachtungen. Die im Zweifel aber sowieso komplett egal sind, wenn das Teil erst einmal vor einem steht. Denn Bilder und Beschreibungen werden dem Design in keiner Art und Weise gerecht. Als ich im Lamborghini-Hauptquartier das erste Mal leibhaftig vor ihm stehe, schaltet sich mein Gehirn komplett aus. Ehrfürchtiges Staunen und Glotzen ist in den ersten paar Minuten alles, was geht. Die schiere Präsenz des Countach ist immens. Flach, breit, böse. Lambo-Style eben.
Und ein Schrei tut jedem kund …
Die Scherentüren schwingen nach oben auf. Ich überwinde den meterbreiten Karbonschweller und fädele mich in den kaum gepolsterten Fahrersitz ein. Es begrüssen einen Knöpfe aus längst vergangenen Audi-Tagen und viel, viel Aventador. Mario Fasaneto, Lamborghini-Cheftestfahrer und für heute unser Guide, zeigt mir noch die Tasten für Vorderachslift und Fahrmodi. «And here, you can deactivate the stability control. I suggest, you don’t do that today», mahnt er vor der Abschaltung des ESP und schwingt sich in einen knallorange-farbenen Urus.
Wer schon einmal in einem Aventador Platz nehmen durfte, wird hier einiges wiedererkennen.
Bevor ich hinterherfahre, noch einmal kurz die Leistungsdaten rekapitulieren. Im Genick sitzt ein 6,5 Liter grosser V12-Sauger mit 780 PS, unterstützt von den 34 PS des im sequenziellen Getriebe sitzenden Elektromotors. Etwaige Gedanken an Verwässerung erstickt der Motor schneller, als man «Ich will ihn aber pur!» schimpfen kann. Auf Knopfdruck und nach ewig langem Anlassersirren brüllt der Sauger einem seine Zündfolge ins Ohr. Wie war das noch einmal mit OPF?
Immer dem Stier nach
Einmal vom Hof gerollt, kommt man sich vor wie vom anderen Stern. Einem riesigen Magneten gleich ziehen Urus und Countach die Blicke an. Wobei, streichen Sie den Urus, nur der Countach. Im Bann des weiss-roten Superstiers verblasst das SUV zum reinen Statisten. Verrückte Welt. Aber wirklich jeder und jede schaut dem Countach hinterher, lacht, gibt Daumen hoch – egal ob die Kids auf dem Schulhof oder die Nonna vom Balkon. Wer im Auto oder auf dem Roller sitzt, scheint wie selbstverständlich in einen reinfahren zu wollen. Dazu Schlaglöcher, Bremsschwellen und absurd hohe Trottoirs.
Countach fahren heisst: Übersichtlichkeit Null, Emotionen eine Million!
Countach fahren fühlt sich an wie Takeshi’s Castle, nur eben mittendrin statt gemütlich vom Sofa aus. Auch weil das Getriebe die Wellen derart hart reinhaut, dass es einen bei jedem Gangwechsel in den Gurt drückt. Federungskomfort ist eh nicht vorhanden. Alles Probleme, die der Urus vor uns nicht kennt. Kein Wunder, dass er Lamborghinis Verkaufsschlager ist. Wer die Boulevards der Côte d'Azur oder von Hollywood hoch- und runterjuckelt, will eben weder Brutalo-Getriebe noch eine Sitzposition einen Finger breit über dem Asphalt.
Gib dem Countach, was er braucht
Was der Countach wie jeder grosse V12-Lamborghini dagegen braucht, ist Platz. Auslauf. Das soll er jetzt auch bekommen. Nach der Ducato-Episode macht die Strasse endlich auf, wird breiter, kurviger, hügeliger – und vor allem freier. Wo das ganze Auto zuvor nur widerwillig Befehle befolgt hat, wird jetzt alles viel verschliffener. Es ist immer wieder unfassbar, wie gierig dieser V12 hochdreht, ab 6000 Touren voll aufmacht und einem den Sound eimerweise entgegenschleudert.
Die Zündfolge ziert traditionell jeden Lamborghini-Motor.
Das Getriebe prügelt noch immer brutal – und nicht sonderlich schnell –, aber enorm emotional die Gänge durch. Die Lenkung fest und direkt, das Chassis steif, die Bremse extrem unnachgiebig und erstaunlich fein dosierbar. Erst unter Last kommt hier die Harmonie. Und die Erkenntnis, dass das Teil doch nicht nur als Posterboy taugt.
Ein Lamborghini muss ungehobelt sein
Natürlich ist der Countach in seiner Basis ein mittlerweile elf Jahre altes Auto. Die Konkurrenz ist schneller – und alltagstauglicher. Aber nur die wenigsten füllen Gefühlsbäder derart randvoll mit Emotionen, wie es dieser V12-Stier tut. Jedem anderen Auto würde man das ruppige Getriebe vorwerfen, die brettharte Federung, die lächerlich pixelige Rückfahrkamera, die wirklich unbequemen Sitze. Aber ein Lamborghini darf, MUSS so sein. Nichts anderes fährt sich derart emotional, intensiv und so herrlich nostalgisch.
Beim Blick nach hinten sieht man fast nichts - ausser den Jubel anderer Verkehrsteilnehmer ob
des Brutalo-Lambo. So viel Freude auf einmal haben wir noch selten erlebt.
Logisch gehen die Meinungen auseinander, ob man den seligen Countach nun wirklich mit einem Sondermodell zitieren musste. Und natürlich dürfte es für Lamborghini vor allem auch ein gutes Geschäft sein, einer vorhandenen Basis «einfach» ein neues Kleid überzustülpen und das Ergebnis für rund 2,5 Millionen Franken pro Stück zu verkaufen.
Aber das wird dem LPI 800-4 nicht gerecht. Für sich betrachtet ist er ein irre faszinierendes, mitreissendes Erlebnis. Werden nur zehn Prozent der 112 Exemplare so bewegt wie von uns heute, hat sich die Kleinserie schon gelohnt. Es müssen dann die erlauchten Besitzer entscheiden, ob er ein würdiger Countach ist. Für uns zählt nur: Er ist ein würdiger Lamborghini. Und Sie können sich denken, was seit diesem Tag meinen Smartphone-Hintergrund ziert.
Technische Daten
Lamborghini Countach LPI 800-4
Motor: V12-Zylinder-Sauger, 6498 cm3, Mildhybrid / Systemleistung: 599 kW (814 PS) / Systemdrehmoment: 720 Nm / Leistungsgewicht: 1,95 kg/PS / Getriebe: 7-Gang-Sequenziell / Antrieb: Allrad / Verbrauch (WLTP): 19,5 l/100 km / Emissionsnorm: 440 g/km CO2 / Effizienzklasse: k. A. / 0–100 km/h: 2,8 s / 200 km/h: 8,6 s / Höchstgeschwindigkeit: 355 km/h / Bereifung: v. 255/30 R20, h. 355/25 R21 / Abmessungen L/B/H (mm): 4870/2099/1139 / Radstand: 2700 mm / Leergewicht: 1595 kg / Kofferraumvolumen: 63 l / Preis: ab 2 010 000 Euro
Text: Moritz Doka
Bilder: Markus Kunz