Technik

Stärkere Bremsen – danke, es genügt

Moderne Autos verzögern weit besser, als es der Gesetzgeber verlangt. Trotzdem werden die Hersteller zu stärkeren Bremsleistungen gedrängt. Viele Automobilisten vermögen das Potenzial nicht zu nutzen.

Veröffentlicht am 21.12.2020

Die gesetzliche Vorgabe lautet: Ein PW muss mit mindestens 5 m/s² verzögern können. Das entspricht
bei einer maximalen Bremskraftübertragung aus Tempo 100, dass der Wagen ohne Reaktionszeit nach 64 Metern steht – mit wird der Anhalteweg länger. Vergleichstests sind populär und auflagesteigernd für die Medien. Punktevergaben in Disziplinen wie «Verbrauch», «Beschleunigung» oder «Bremsen» krönen in der Summe den Sieger. Das dürfte sich in Märkten wie in den USA oder Deutschland, wo derartige Vergleiche inflationär verbreitet sind, auf die Neuwagenverkäufe auswirken.

Vergleiche fördern den Fortschritt

Ein 2,3 Tonnen schweres «Performance-SUV» steht mit einer Bremsleistung aus 100 km/h nach 33 Metern – macht 19 von 20 Punkten. Also «gut», aber es könnte noch besser gehen. In einem anderen Medium erreicht ein 1,8 Tonnen schweres SUV aus
100 km/h 35 Meter vier von zehn möglichen Punkten, was wohl mit «bestenfalls durchschnittlich» bewertet sein soll. Die Skalierung lässt sich begründen, denn die besten Sportwagen stehen inzwischen nach einer Vollbremsung mit ABS bei 29 Metern still. Faszinierend, sensationell. Mit dem «aber», dass Vergleiche im Meterbereich nur mit identischen Reifentypen und -dimensionen authentisch wären. Das ist nur selten der Fall. Die meisten Modelle werden ab Werk mit verschiedenen Fabrikaten besohlt (siehe dazu auch ai7/2020).

Die Bremse des Porsche RSR

Darum geht es am Rande. Aufgrund dieser Testerei lässt sich buchgeführt festhalten, dass die Autohersteller die Vergleiche ernst nehmen und regelmässig tollere Resultate vorweisen, welche im einstelligen Prozentbereich deckungsgleich mit der Konkurrenz sind. Vergleiche fördern den Fortschritt!

Genug!

Erfahrungen beim Ausbilden zum sicheren Autofahren zeigen schon lange etwas anderes und konkludieren, dass mit der Aufrüsterei der Bremsanlagen Schluss sein sollte. Die allermeisten Autofahrer vermögen das Potenzial moderner Anlagen nicht zu nutzen. Und vorausschauend Fahrende müssen die Höchstleistungen kaum je abrufen.

Mit der Einführung der Antiblockierbremse passierte ein Riesenfortschritt. Ford rüstete 1985 den Scorpio serienmässig mit ABS aus und schnell nistete sich die automatische Stotterbremse in allen Neuerscheinungen ein. Mit ABS konnten die Tester ab circa 1990 damit beginnen, die Bremsleistung als Faktor in ihre Vergleiche einzubringen. Zuvor war die Stopperei ein Vabanquespiel mit Peiselerrad und Messband. Mit Vollbremsungen riskierte man einen Reifenplatten. Dosiertes Stoppen im Grenzbereich gelang nicht jedem, und wenn, kam es zu Streuungen – und/oder die Bremsen zogen einseitig. 

Aus den Anfängen des ABS

1990 lagen die gemessenen Bremswege (100–0 km/h) bei maximal 56 bis minimal 37 Metern für Personenwagen. Ein BMW X5 kam ein Jahr später auf 41 Meter, der Ferrari 360 auf 37 Meter aus Tempo 100. Später kamen Messungen «warm aus 100 km/h» dazu, was die Punkteverteilung über die Bremsen beim Zusammenzählen nochmals bedeutsamer machte. 2005 lag der Streubereich der Personen- und Sportwagen mit guten Bremsanlagen zwischen 35 und 40 Metern, 2016 bei 33 bis 37 Metern und Nischenmodelle aus Fernost verharrten bei rund 40 Metern.

Danke, das genügt! Wegen grösserer Räder sind mächtigere Scheiben und Zangen unterzubringen. Die tollen Reifen sind der Optik geschuldet und kleine Scheiben hinter 20-Zoll-Rädern sehen peinlich aus. Trotzdem sollte mit gewichtigeren Bremsanlagen nun Schluss sein, zumindest bei den nicht vorwiegend für Rundstrecken bestimmten Autos. Gemessen wird heutzutage per GPS. Die besten normalen PWs sind bei 33 Metern angelangt, bekommen aber nicht die volle Punktzahl.

Nicht nutzbar

Viele Autofahrer bremsen nicht, sondern lassen es schleifen, siehe die Bremslichter auf Talfahrt. In einer Paniksituation treten sie vielleicht voll drauf, erschrecken dann ob der Verzögerung so sehr, dass sie vom Pedal steigen. Gewiss, die modernsten Automobile überflanken dieses Verhalten kamerabasiert mit dem Notbremsassistenten. Man sollte es den Autoherstellern nicht schwerer machen, die abartigen CO2-Ziele mit noch gewichtigeren Scheiben und Zangen zu erreichen.

Dies ist der eine Punkt. Der andere: Selbst die besten Stoppanlagen kommen weiterhin an ihre Grenzen, wenn die Autofahrer in der Fahrschule nicht mit Notbremsungen geschult werden. Zögerliches Schleifen geht in einer Passabfahrt nicht bloss in die Beläge und in die Scheiben, sondern kostet Bremsweg. Gegen das lang anhaltende Schleifen kommen viele Bremsanlagen weiterhin nicht auf, die optisch Kühlung suggerierenden Öffnungen vorne erweisen sich als Fake, denn die Kühlung ist für extreme Bremsungen nicht nötig. Für den schleifenden Durchschnittsautofahrer hingegen wären sie es umso mehr, sind es aber nicht, weil die «Schleifer» so verzögern, dass der Fahrtwind keine Kühlung bietet.

Moderne Bremsen

Der politische Aspekt

Endlich sind wir beim politischen Aspekt angelangt – der erste, das Gewicht, wurde mit dem CO2-Gesetz angesprochen. Sicherheitsaspekte rechtfertigen dank der Fortschritte der Autoindustrie schon länger keine strengeren Tempolimite mehr. Verkehrslärm kann man als Argument höchst selten anführen, vor allem wenn parallel zur Strasse eine Tram oder eine S-Bahn rattert. Hingegen müssten die Schwellen zur Erreichung der Fahrtüchtigkeit einigermassen Schritt mit der technischen Entwicklung halten. Notbremsungen aus 120 über 80 bis 30 km/h – obwohl bei vorausschauender Fahrweise selten verlangt – müssten zwingend im Prüfungsprozedere vorgeschrieben sein, wenn die Gesellschaft vom Fortschritt profitieren soll.

Die Autofahrer müssen wissen, was ihr Vehikel kann. Das wäre der Entwicklung, den Autoherstellern und den Autokäufern geschuldet. So käme man darauf – auweia! –, Fahrern ab einem gewissen Alter statt einer ärztlichen Untersuchung eine kurze Fahrprüfung abzuverlangen, und, wenn diese nicht bestanden wird, den Gültigkeitsbereich der Fahrerlaubnis wenigstens regional einzuschränken. Heute, wo praktisch alles und das Tempo sowieso reglementiert sind. Die Gesetzgeber honorieren die Bremsleistungen der Autos zugunsten von mehr Sicherheit nicht. Man erkennt daraus unterschiedliche Ideologien. Stattdessen heute: Trotz klarer Erkenntnisse wollen gewisse Kreise eine Helmpflicht für schnelle Elektrovelos nicht akzeptieren.

Text: Jürg Wick

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