Die «Bentley Boys» – und die Trillerpfeife
Wie die «Bentley Boys» die Marke berühmt gemacht haben - und was das mit Le Mans und Trillerpfeifen zu tun hat.
So schreibt es zumindest die Legende: Wenn die «Bentley Boys» auf dem Landsitz Ardenrun während der «üblichen Geschäftszeiten» - also zwischen 22 Uhr abends und 6 Uhr morgens - jeweils eine Siegesparty feierten, wurde in den frühen Morgenstunden die hbscheste Dame zu einer kleinen Spritztour geladen. Nur eine Vorschrift musste diese Königin der Nacht jeweils erfüllen: Sie hatte eine Polizei-Trillerpfeife im Mund zu tragen. Der Rest der Bekleidung stand ihr vollkommen frei. Je freier, desto beliebter machte sie sich bei den Herren, welche das Fest ausrichteten.
Die schnellsten Lastwagen der Welt
Die «Bentley Boys», das waren etwa 20 junge Männer, das Gesicht vom Öl geschwärzt, den Blick ins Heldenhafte verklärt. Alle stammten sie aus bestem Haus, alle bewohnten sie gemeinsam ein Haus am Londoner Grosvenor Square, der heute noch als «Bentley Corner» bekannt ist, alle waren sie gute Kunden bei einem gewissen W.O. Bentley in Cricklewood - und alle fürchteten sie weder Tod noch Teufel. Und das war auch nötig, denn sie pilotierten Fahrzeuge, die der geniale Ettore Bugatti einst als die «schnellsten Lastwagen der Welt» bezeichnet hatte.
Ihre Karriere begannen die meisten der «Bentley Boys» in Brooklands. Diese Rennstrecke im Süden von London war 1907 als erster Circuit überhaupt nur für den Motorsport erstellt worden. Die Rennen auf diesem Betonoval gehörten bis zur Schliessung der Strecke im Jahre 1939 zu den wichtigsten gesellschaftlichen Ereignissen der englischen Oberschicht, an einem Rennwochenende in Brooklands musste man genauso dabei sein wie am Pferderennen in Ascot, an der Ruderregatta in Henley und am Tennisturnier Wimbledon. Während aber die meisten der in Brooklands erfolgreichen, fast immer britischen Erzeugnisse auf dem Kontinent keinen Blumentopf gewinnen konnten, war das bei den urigen Bentley ganz anders.
Bentley in Le Mans
Denn seit 1923 gab es in Frankreich ein Marathon-Rennen, das perfekt auf die kräftigen Bentley zugeschnitten war: die 24 Stunden von Le Mans. Bei der zweiten Austragung traten John Duff und Frank Clement auf einem privat gemeldeten, aber in Cricklewood vorbereiteten 3-Liter-Bentley an. Und gewannen auf Anhieb gegen 39 französische Konkurrenten. Dieser unerwartete Erfolg motivierte W.O. Bentley, also schickte er in den folgenden Jahren seine in Brooklands so erfolgreichen «Bentley Boys» ins Gefecht.
Doch die «schnellsten Lastwagen der Welt» waren in ihren Rennversionen noch zu defektanfällig, so dass dieses Playboy-Werksteam erst 1927 mit J. Dudley Benjafield und Sammy Davis wieder zuoberst auf das Siegertreppchen steigen konnte - nachdem drei von vier gemeldeten Bentley beim gleichen Unfall aus dem Rennen geworfen worden waren. Im Jahr darauf konnten Woolf Barnato und Bernard Rubin den Sieg feiern, 1929 fuhren vier von den fünf gemeldeten Bentley Speed Six nach 24 Stunden gemeinsam als Sieger über die Ziellinie. Und noch ein Jahr später sicherte wieder Barnato, diesmal zusammen mit Glen Kidston, Bentley den vierten aufeinanderfolgenden Sieg in Le Mans. Aber auch auf vielen anderen Rennstrecken waren die «Bentley Boys» dominant, so dass sie viele Parties zu feiern hatten, so dass viele junge Damen zum Vergnügen mit der Trillerpfeife kamen.
Bakteriologen und Leichtathleten
Sie waren wilde Kerle, die «Bentley Boys». Sir Henry Ralph Stanley «Tim» Birkin, genannt «der Stotterer» und Erfinder der legendären Kompressor-«Blower»-Bentley, war einer der Sieger von 1929 und gewann 1931 in Le Mans auf einem Alfa Romeo ein zweites Mal. Er starb schon mit 37 Jahren - nachdem er sich an einem glühend heissen Auspuffrohr eine Infektion zugezogen hatte. Dr. J. Dudley Benjafield war ein anerkannter Bakteriologe, Sammy Davis ein bekannter Journalist, George Duller hielt verschiedene englische Rekorde in der Leichtathletik, Glen Kidston war ein Pilot, der verschiedene Bestmarken für den Flug von London nach Kapstadt gesetzt hatte. Und die Brüder Jack und Clive Dunfee verdienten sich in ihrer Freizeit ein mehr als nur anständiges Vermögen an der Börse.
Der wildeste der «Bentley Boys», das war aber Woolf «Babe» Barnato. Nicht nur, dass er die drei letzten Le-Mans-Siege für Bentley einfuhr, «Babe» war auch ein hübsches Kind. Und ein reiches: Seinem Vater gehörten die Kimberley-Diamantenminen in Südafrika, Barnatos Konditionstraining für die langen Rennen umfasste im Sommer Jachtferien im Mittelmeer, im Winter ausgiebige Jagden in Schottland. Wenn Woolf gerade Lust hatte, dann züchtete er auch noch erfolgreiche Rennpferde. Wenn er nicht gerade den damals noch längeren Röcken hinterher war.
Und dann: Rolls-Royce
Am liebsten fuhr «Babe» aber Autorennen: Seinen legendärsten Bentley-Sieg, den erreichte er allerdings nicht auf einer Rennstrecke, sondern auf öffentlichen Strassen. Er hatte mit Tim Birkin gewettet, dass er schneller als der «Blue Train» von Cannes nach London fahren könne. Natürlich schafften er und sein sehr spezieller, vom Karrossier Gurney Nutting eingekleideter Bentley 6 1/2 Litre dies spielend: Um stolze vier Stunden waren sie vor dem Schnellzug in London, obwohl sich Barnato in Paris zu einem oppulenten Mahl niedergelassen hatte. Barnato versuchte Ende der zwanziger Jahre auch alles, um das Lebenswerk des Walter Owen Bentley zu retten. Bentley war einer der genialsten Konstrukteure jener Jahre: Er verarbeitete als erster Aluminiumkolben in einen Motor, er baute im Ersten Weltkrieg eines der besten Flugzeug-Triebwerke, auf sein erstes eigenes Fahrzeug, das er 1921 auf den Markt brachte, gab er stolze fünf Jahre Garantie.
Bentley hatte auch grossen Erfolg mit seinen Fahrzeugen - doch die Weltwirtschaftskrise von 1929 brach ihm, der ausschliesslich teure Luxuslimousinen und Rennwagen konstruierte, finanziell das Genick. Mit einem Überraschungscoup konnte Rolls-Royce 1931 die Firma ihres grössten Widersachers übernehmen. W.O. Bentley selber, der 1971 im Alter von 83 Jahren starb, konnte diese Niederlage nie verwinden. Zwar arbeitete er noch bis 1935 bei Rolls-Royce, doch dann folgte er dem Ruf von Lagonda, wo er einen sensationellen Zwölfzylinder konstruierte, mit dem er der Marke mit seinem eigenen Namen das Leben sehr schwer machte.
Lange sah es danach aus, als ob Bentley auch unter den Fittichen von Rolls-Royce eine gewisse Eigenständigkeit bewahren könnte. Zu Beginn war es der sagenhafte 8-Litre, der als eines der ersten Serienautos schneller als 100 Meilen (161 km/h) war, danach die 3 1/2- Litre. Bis 1955 unterschieden sich die Bentley und Rolls-Royce nicht nur formal, sondern meist auch unter der Haube. Dann aber kam die Bentley-S-Serie auf den Markt, die nichts anderes war als ein umgetaufter Rolls-Royce Silver Cloud. Daran änderte sich in den folgenden Jahren wenig: Ein Bentley war ein Rolls-Royce war ein Bentley war ein Rolls-Royce.
In der aktuellen Ausgabe der «auto-illustrierte» gibt es ganz viel über Bentley zu lesen. Ein Gang an den Kiosk lohnt sich.