Abarth 600e: Juniors provokativer Bruder
Nach dem Alfa Romeo Junior bekommt jetzt auch der Fiat 600 den neuen Hochleistungs-E-Motor von Stellantis verpasst. Das Ergebnis heisst Abarth 600e und provoziert die Fans nicht nur mit seinem Antrieb.
Echte Alfisti werden den Alfa Romeo Junior Veloce nie akzeptieren. Zu gewöhnlich sind seine Stellantis-Gene, zu SUV-mässig sein Format und vor allem zu elektrisch sein Antrieb. Dass er sich wirklich blendend fährt, spielt da überhaupt keine Rolle. Abarth-Fans sind nicht unbedingt als tolerantere Spezies bekannt. Die Marke ist zwar nicht ganz so alt wie Alfa Romeo, hat aber trotzdem eine sehr grosse Geschichte. Die zahlreichen Eigenkonstruktionen sowie die getunten Modelle von Simca, Fiat oder Autobianchi aus den 1950er- und 1960er-Jahren werden heute zum Teil enorm hoch gehandelt. Geschweige denn die zahlreichen Rennwagen.
Wo bleiben die Abarth-Liebhaber?
Als Fiat den 1971 gekauften Namen um die Jahrtausendwende wieder aus der Versenkung hob, war die Freude im Abarth-Fanlager zwar nicht riesig, aber vor allem die Neuinterpretation des Fiat 500 konnte durchaus die Herzen erwärmen. Noch heute tröten die 500er in Scharen aus den Showrooms. Dem vollelektrischen Abarth 500e auf Basis des gleichnamigen Fiat war bis anhin nicht der gleiche Erfolg vergönnt. Und Abarth-Liebhaber scheinen sich mit diesem Modell überhaupt nicht anfreunden zu können wie der Elektro-Anteil von lediglich 10 Prozent aller Abarth 500 beweist. Trotzdem steht jetzt pünktlich zum 75-jährigen Markenjubiläum ein weiterer vollelektrischer Abarth in den Startlöchern, der 600e.
Zwei Leistungsstufen
Man muss kein Prophet sein, um die grosse Ablehnung der Abarth-Jünger vorauszusagen. Aber wie beim Alfa Romeo Junior Veloce ist sie tatsächlich nur im Hinblick auf die Tradition berechtigt. Denn Stellantis hat der Elektroversion des Fiat 600 nicht einfach ein paar Abarth-Badges aufgeklebt, sondern ihn gründlich getunt – eben ganz nach alter Tradition. Herzstück dieses Tunings ist ein anderer Motor, ein auf dem Formel-E-Prüfstand entwickeltes Hochleistungsaggregat mit entweder 240 PS (Turismo) oder 280 PS (Scorpionissima). Dazu kommen ein Torsen-Sperrdifferenzial und ein Batteriekühlsystem zur Sicherstellung einer kontinuierlichen Leistungsbereitschaft. Und ausserdem Rennsport-Bremsen und ein gründlich optimiertes Fahrwerk.
Aggressiv, beinahe pubertär
Natürlich wurde auch optisch kräftig Hand angelegt. Der brave 600er ist zwar noch eindeutig zu erkennen, aber man hat sich wirklich Mühe gegeben, ihn aggressiver, ja beinahe pubertärer zu machen. Dazu passt der Soundgenerator im Topmodell Scorpionissima. Der brabbelt dann im Stand gut hörbar, verzichtet aber auf die überlaute Peinlichkeit, wie sie der 500e mit aktiviertem Soundgenerator von sich gibt. Im «grossen» Abarth klingt es besser, aber das Ganze lässt sich (zum Glück) auch ausschalten.
Chronischer Fahrspass
Die wichtigste Frage ist natürlich, wie sich der Abarth 600e fährt. Kurz: launig. Dass das Fahrzeug flink nach vorne schiesst, dürfte in Anbetracht der Leistungsdaten niemanden überraschen. Und der von Abarth für den Scorpionissima kommunizierte Papierwert von 5,85 Sekunden des 0-auf-100-Sprints erscheint unnötig exakt wie durchaus glaubhaft.
Allerdings fühlt man sich in der 240-PS-Variante Turismo alles andere als untermotorisiert, ein grosser Performanceunterschied ist nicht spürbar. Dafür offenbar messbar: In 6,24 Sekunden (ja, es geht noch exakter) soll der Turismo den Paradespurt absolvieren. Wie gesagt: Schnell genug sind sie beide. Und das maximale Drehmoment mit 345 Nm sowieso identisch.
Bereit für die Rennpiste?
Auch in Sachen Kurvendynamik nehmen sich die beiden Varianten nichts. Logisch, sie verfügen über die gleichen Zutaten und Optimierungen. Die Lenkung ist zwar spürbar weniger direkt als beim Alfa Romeo Junior Veloce, dafür ist das Chassis noch etwas härter. So sei der immerhin bis zu 200 km/h schnelle Skorpion bereit für den Renneinsatz, meint Abarth vollmundig. Allzu lang darf dieses Rennen dann nicht sein, denn der netto nur 51 kWh kleine Akku ist bei Vollstrom naturgemäss rasant leergesaugt. Bis dahin spürt man aber tatsächlich keinerlei Leistungseinbussen, wie man es sonst von vielen hart rangenommenen Stromern kennt.
How much?
Bleibt noch die zweitwichtigste Frage: Was kostet der Spass? Wissen wir noch nicht genau, vermutlich rund 45’000 Franken der Turismo und knapp 50’000 Franken für den Scorpionissima. Aber wir können dafür die drittwichtigste Frage genau beantworten. Nämlich, warum man den Scorpionissima nehmen soll, wenn der Turismo doch fast so schnell ist? Nun, diese Topversion hat ausser dem Leistungsplus und einer besseren Komfortausstattung (unter anderem Navi) auch noch Schalensitze von Sabelt, ein Bodykit und ist exklusiv in der Farbe Hypnotic Purple (zu Neudeutsch: violett) verfügbar. Und: Sie ist auf 1949 Exemplare limitiert. Aber das wird aus Hardcore-Abarth-Fans vermutlich auch keine 600e-Liebhaber machen.
Text: Simon Tottoli
Bilder: Stellantis / Abarth