Der Lotus, den Colin Chapman fuhr
Wer an Lotus Esprit denkt, dem kommen als erstes die James Bond Filme in den Sinn, wie der Spion damit abtaucht und am Strand wieder auftaucht. Oder wie 007 mit einem Lotus Esprit Turbo “In tödlicher Mission” unterwegs ist. Der Lotus Esprit Turbo Essex von Alexander Iten hat eine noch exklusivere Geschichte. Es handelt sich um ein Vorserienmodell, das einst Colin Chapman, dem legendären Lotus-Gründer und Rennstallbesitzer, persönlich gehörte.
Royal Albert Hall, London, Februar 1980: Champagnerkorken knallen, Shirley Bassey singt ihre grössten Hits und in der Eingangshalle des ehrwürdigen Konzerthauses steht dieser blaue Lotus Esprit Turbo Essex. Die rund zweihundert geladenen Gäste hatten jeden Grund zu feiern. Angestossen wurde auf den acht Millionen Pfund-Sponsoring Deal, den Lotus mit Essex Overseas Petroleum Company abgeschlossen hat.
Damit landete Colin Chapman einen echten Coup – eine höchst notwendige Finanzspritze für seinen teuren Formel-1-Rennstall und für die darbende Automobilproduktion. Wie eine Trophäe empfing dieser Lotus Esprit Lotus Essex in der Eingangshalle der Royal Albert Hall das geladene Publikum, das nicht schlecht über die Zukunft der Firma Lotus staunte.
David Thiemes Deal
Zum Deal mit dem amerikanischen Ölhändler David Thieme gehörte nicht nur das Formel 1 Sponsoring, sondern auch die Entwicklung eines Sportwagens, der es mit einem Ferrari 308 oder Porsche 930 Turbo aufnehmen konnte. So entstand der Lotus Esprit Turbo, ein Sportwagen mit rund 1’000 Kilogramm Gewicht, 212 PS Leistung und einer Spitzengeschwindigkeit von 241 km/h. Die ersten 45 Exemplare des neuen coolen britischen Sportwagens sollten im Essex-Look daherkommen.
Giugiaro Design
Für das atemberaubende Design des Esprit beauftragte Lotus den Da Vinci des Automobildesigns, Giorgetto Giugiaro. Im Briefing stand, dass der Lotus Esprit Turbo den Status als schnellstes und teuerstes Modell widerspiegeln sollte. Einziger Wermutstropfen: Weil der neue Sportwagen auch in den USA zugelassen werden sollte, gehörten US-Sicherheitsstandards wie grössere Stossfänger zum Pflichtprogramm. Woran schon namhafte Designer bei anderen Sportwagen kläglich gescheitert sind, löste Giugiaro die Aufgabe auf elegante Weise.
Alles was geht
Ölmagnat Thieme bestand zudem darauf, dass der Esprit Turbo Essex eine aussergewöhnlich hochwertige Ausstattung bekommen sollte. Also wurde alles reingepackt, was ging: Volllederausstattung, Klimaanlage und eine damals hochmoderne, im Dach montierte Panasonic-Stereoanlage, die in der Nacht beleuchtet an das Cockpit eines Helikopters erinnert. Wie cool ist das denn!
Und es sollte noch besser kommen: Kurz nach Produktionsstart 1980 wurden an die Produzenten des neuesten James Bond Film “In tödlicher Mission” zwei Lotus Esprit Turbo mit den Essex-Spezifikationen in feuerbronzer bzw. weisser Farbausführung ausgeliefert. Der Film war 1981 ein echter Verkaufsbooster.
Es lief richtig, richtig gut
Man kann das glückliche Grinsen von Colin Chapman, dem begnadeten Rennwagenbauer und Rennstallbesitzer, förmlich sehen, wie er in diesem Lotus Esprit Turbo Essex zwischen 1980 und 1981 zur Arbeit nach Hethel fuhr. Was gibt es schliesslich besseres als einen guten Sponsoring-Deal in der Tasche zu haben und im selbst gebauten Sportwagen über die Strassen zu fegen? Endlich lief für Colin Chapman alles wie am Schnürchen. Zwar gefiel Chapman das original Essex-Blau nicht so gut, weshalb er ihn eine Nuance dunkler einfärben liess. Passend dazu liess er auch seinen Helikopter im blauen Essex-Look lackieren. Tja, wenn man schon mal die Lackpistole in der Hand hat …
Das Ende des Höhenflugs
David Thieme muss ihm damals wie ein Retter in der Not gekommen sein. Das machte ihn möglicherweise auch ein bisschen blind auf einem Auge. Just auf dem Höhepunkt im Jahr 1981 brach das Öl-Imperium des Essex-Besitzers zusammen. Wie sich herausstellte, war der Ölhandel auf einem Schneeballsystem aufgebaut. Dies stellte sich heraus, nachdem David Thieme am Flughafen in Zürich verhaftet wurde.
Aus dem Geldsegen wurden über Nacht wieder Geldsorgen. Quasi von heute auf morgen musste ein neuer Sponsor her – Martini sprang kurzfristig ein. Zusammen mit Schwierigkeiten bei der Fabrikation des DeLorean DMC und dem mangelnden Erfolg in der F1 türmten sich die Probleme auf Colin Chapmans Schreibtisch. Sein Herz machte das nicht mehr mit und hörte 1982 plötzlich auf zu schlagen.
Von wegen “the true story”
Colin Chapmans Nr. 1 Lotus Esprit Turbo Essex hat überlebt. Erst wurde das Auto an einen britischen Lotus-Händler verkauft, der ihn nach einem Jahr weiterverkauft hat. Dann verlor sich die Spur des Wagens. Offiziell galt das Auto als verschollen, wie es im Buch “Lotus Esprit - the true story” steht. Das stimmt natürlich nicht, wie der heutige Besitzer Alexander Iten auch dem Autor des Buches geschrieben hat. Ende der 1980er Jahre kam der Wagen in die Schweiz – ein Lotus-Spezialist hatte ihn aus England importiert.
Von der Lotus-Geschichte fasziniert
Schon lange bevor sich die Wege von Alexander Iten und dem Esprit Turbo Essex kreuzen sollten, war der Maschinenbauingenieur dem Mythos Lotus erlegen. “Ich kaufte meinen ersten Lotus Elan S3 Mitte der 1990er Jahre. Mich faszinierte schon immer die Geschichte der Marke von Lotus und ganz besonders diejenige von Colin Chapman, dem legendären Rennwagen-Konstrukteur.” Der Luzerner fuhr bereits als junger Mann verschiedene Lotus-Modelle, hatte sowohl ein Elan S4 Coupé als auch die S3 Cabrio-Variante, zwei Lotus Europa Twincam, bevor er seinen ersten Lotus Esprit S2.2 kaufte. Wer solche Autos fährt, der verbringt viel Zeit mit dem Garagisten. Gut ist man mit ihm befreundet – so wie Alexander Iten mitd Fredy und Elisabeth Kumschick, den Lotus-Spezialisten in Schötz schlechthin.
Wie es zum Kauf kam
Alexander Iten war eigentlich auf der Suche nach einem Lotus Esprit S2 im legendären John Player Special Look; doch er fand nicht das für ihn passende Exemplar. Über Umwege hörte er dann von einem ganz speziellen Lotus Esprit Turbo Essex, der ihn interessieren dürfte. “Also habe ich mich bei diesem Besitzer gemeldet und mich mit ihm unterhalten. Damals wusste ich noch gar nichts über den speziellen Hintergrund des Autos.” Doch der Verkäufer wollte das Auto sowieso nicht verkaufen. “Um zu zeigen, dass ich ein wirklicher Lotus-Fan und kein Händler bin, ging ich einige Male bei ihm vorbei und konnte dabei das Auto anschauen. Ich war begeistert.” So machte er dem Sammler ein Angebot: Sollte er den Lotus doch verkaufen wollen, möge er ihn doch bitte kontaktieren. Und so kam eines zum anderen und Alexander Iten in den Besitz des einzigartigen Vorserienmodells. Das war vor über 25 Jahren.
Eine Zeitmaschine zurück in die 1980er Jahre
Ein Vierteljahrhundert später steht der Lotus immer noch da, wie damals, als Colin Chapman ihn fuhr. “Es ist alles noch genau gleich, original und im Erstlack wie am ersten Tag”. Auch was der Meilenstand auf dem Tacho betrifft, scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. 25’000 Meilen, also rund 38’000 Kilometer hat der Sportwagen auf der Uhr.
Spektakulär geht es innen weiter. Öffnet sich die Tür, steigt man in eine Zeitmaschine, die einem in die Zukunft der 1980er Jahre beamt: Ein rotes Meer aus Leder und ein Cockpit wie aus einem Science Fiction-Comic. Der Esprit Turbo Essex mit der Nr. 1 – alle Esprit Turbo Essex sind fortlaufend nummeriert und an der C-Säule beschriftet – hat noch vieles an Bord, das nicht in Serie gegangen ist oder später zwecks Einsparungen weggelassen wurde.
Wie ist der Lotus Esprit Turbo Essex zu fahren? Alexander Iten: “Wirklich schnell ist das Auto aus heutiger Sicht nicht. Der Motor steht hier ohnehin weniger im Zentrum als beispielsweise beim Porsche 930 Turbo 3.3 oder dem Ferrari 308 GTB”. Er muss es wissen – er hat auch diese beiden Schätze in seiner Garage stehen. “Aber was Fahrwerk und niedriges Gewicht angeht, da liegt der Lotus klar vorne.”
Alexander Iten hat sich die Geschichte des Autos bei Lotus im Werk zertifizieren lassen – auch deshalb, damit die Nr.1 nicht mehr als verschollen gilt. Colin Chapman hätte grosse Freude, wie gut der 57-Jährige seinen Lotus Esprit konserviert hat. Und so wird es auch bleiben. Zu verkaufen ist der geschichtsträchtige Lotus Esprit Turbo Essex nicht.
Text: Jürg Zentner
Bilder: Christian Lienhard (lienhardbildwerke.ch)